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Album der Woche: Tocotronic – Schall & Wahn

Was soll man über diese Band noch schreiben? Eigentlich wurde alles gesagt. Egal ob in Feuilleton, Musikpresse, Communities oder Blogs – ein neues Tocotronic-Album ist ein Selbstläufer. Es findet statt, seitenweise und stundenfüllend. Der gemeinsame Nenner: Tocotronic ist die Band mit dem Abo fürs Dagegen- und Dazwischensein. Verweigerung als Prinzip – ein Mantra, das seit 17 Jahren und 9 Alben funktioniert. Dabei ist auch Schall & Wahn vor allem ein großer Schwindel.

Zunächst einmal gilt es festzustellen, dass Tocotronic wie keine andere Band über ihren Inhalt definiert wird. Klar, hier und da wird über den räumlichen Sound der Aufnahmen und die Zusammenarbeit mit Produzent Moses Schneider gesprochen, doch Kern aller Resonanz ist Haltung und Aussage. Den Texten wird demnach eine enorme Deutungshoheit beigemessen, die der Band selbst gar nicht so recht schmecken mag. Texter Dirk von Lowtzow lehnt es seit jeher ab, Identifikationsfigur oder gar Sprachrohr einer Generation zu sein. Konsequenterweise veränderte sich seine Songsprache im Verlaufe der Jahre von Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein zu Die Bruderschaft der dunklen Macht kann uns verstehen. Das hat keiner mehr so richtig verstanden und doch so viele fasziniert, denn wie so oft wohnt dem Rätselhaften ein Zauber inne, der um ein vielfaches spannender ist als das Banale des Eins-zu-eins-Konzeptes.


Trotz aller Entrücktheit schaffen es Tocotronic aber immer wieder, Wörter und Songs für das zu finden, was einem schon länger im Hinterkopf schwirrt, für das man aber bisher keine Ausdrucksform fand. Ob sie’s wollen oder nicht, die Herren Zank, Müller, McPhail und von Lowtzow treffen auch im Jahr 2010 mit Schall & Wahn den Zeitgeist. Fand man beim Vorgängeralbum mit Kapitulation die Antithese zur „Kopf hoch, das wird schon wieder“-Haltung, so schießt die neue Single Macht es nicht selbst volles Rohr gegen neoliberale Ideen der Marke Obi, Facebook und Silbermond. Daran anknüpfend proklamiert das mit Akustik-Gitarre und Streichern zart vorgetragene Im Zweifel für den Zweifel die Schönheit der Unentschlossenheit und trifft damit den Nerv einer von Selbstverwirklichungszwang geprägten Generation.

Tocotronic haben das Dagegensein gewissermaßen zur Tradition erklärt und man muss ein bisschen an Morrissey denken, wenn Dirk von Lowtzow in Die Folter endet nie über die Lanze für den Widerstand singt, denn diese Verweigerung hat genauso Methode wie die ständig wiederkehrenden Misanthropie-Abhandlungen des ehemaligen The Smiths-Sängers (man denke nur an Zeilen wie Only steel and stone accept my love).

Spiel mit den Formen - Tocotronic in atypischer Rockstar-Pose

Tocotronic in atypischer Rockstar-Pose
Spiel mit den Formen

Wie kaum eine andere Band lieben Tocotronic das Spiel mit den Formen. Auf den aktuellen Bandfotos sieht man vier adrett gekleidete Bandmitglieder, die einander anfassen – eine höchst untypische Pose für eine Rockband. Schall & Wahn ist eigenen Aussagen zufolge der abschließende Teil einer Berlin-Trilogie. Tatsächlich wurden die letzten drei Alben mit Moses Schneider in Berlin aufgenommen. Der Sound ist ähnlich, alle Alben wurden live eingespielt und haben einen sehr rohen und räumlichen Klangcharakter. Doch in Anspielung auf David Bowie und Brian Eno ist die Bezeichnung „Berlin-Trilogie“ natürlich nichts weiter als ein Jux, dem in den Medien gerne höchste Bedeutung zugemessen wird.

Man kann Tocotronic vorwerfen, dass sie es sich seit ein paar Jahren in ihrem Sound und ihrem künstlerischen Ansatz gemütlich gemacht haben und einen Sonic Youth-ähnlichen Werdegang einschlagen. Doch man möchte diesen konstanten Gegenentwurf im deutschen Popkosmos nicht missen. Man kann sich vorstellen, wie sich die Herren ins Fäustchen lachen, wenn sie merken, dass ihr Plan mal wieder aufgegangen ist, wenn ihre Texte und Zeichen ins Tiefste analysiert werden. Dabei ist Tocotronic eine Band mit Selbstzweifeln, eine faule Band, die auf die Konventionen des fleißigen Musikbiz pfeift, eine Band die sich Zitate von William Faulkner, Hubert Fichte und Shakespeare zusammenklaut und eine Band, die Humor in die Rockmusik bringt, wenn sie in Macht es nicht selbst singt: Wer zu viel selber macht / wird schließlich dumm / ausgenommen Selbstbefriedigung. Wenn Schall & Wahn dann erwartungsgemäß eine Woche nach Veröffentlichung in die Top 5 der deutschen Albumcharts einsteigt, dann ist es vor allem ein großer Schwindel, ein genialer Coup.

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