Montagsdemonstrationen in Leipzig : Christian Dietrich

Aus der kleinen Leipziger Demonstration „für offene Grenzen, Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit“ ist in kurzer Zeit eine Massenbewegung geworden. Einer derjenigen, die damals in der ersten Reihe demonstrierten war der Theologiestudent Christian Dietrich. Heute arbeitet der 44-jährige als Pfarrer in Nohra bei Weimar – detektor.fm hat ihn besucht.

Der blonde, großgewachsene Christian Dietrich hat viel zu tun. Als Pfarrer von Nohra in der Nähe von Weimar kümmert er sich heute um sechs Kirchen. Vor zwanzig Jahren studiert Christian Dietrich noch und organisiert zusammen mit anderen den Protest gegen den Staatsapparat.

Christian Dietrich 

Er liest viel über die amerikanischen Graswurzelbewegungen der 60er Jahre und über Formen des gewaltfreien Widerstandes. Im Sommer 1989 ist er auch deshalb viel im Ostblock unterwegs. Unter anderem in Polen, der Ukraine, Rumänien oder Ungarn.

Europa war nach dieser Sommerpause anders. Wer wollte hatte sein Schlupfloch gefunden, um in den Westen zu kommen. Es war klar, dass das Nachbarland Polen nie wieder so sein wird, wie es gewesen ist. Und dann kam ich in die DDR und habe gesagt, hier ist doch alles gelaufen.

In der DDR ist jedoch noch nicht alles gelaufen. Auch wenn Christian Dietrich längst an den Mauerfall glaubt, hat sich die Lage nach den Protesten gegen die Wahlen im Mai scheinbar beruhigt. Doch das ändert sich am 4. September. Es ist Herbstmesse in Leipzig und damit sind westliche Firmen und auch Medien in der Stadt. Die Staatssicherheit protokolliert: „Im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchführung des ‚Montagsgebets‘ in der Nikolaikirche am 4.9. 1989 wurden nachfolgende operativ-bedeutsame Informationen inoffiziell erarbeitet und dokumentiert: Dietrich, Christian äußerte sich in einem internen Gesprächskreis dahingehend, dass während der Herbstmesse 1989 jeden Tag eine Aktion durchgeführt werden soll und es diesbezüglich bereits entsprechende Absprachen mit westlichen Medien gegeben habe.“ Erstmals trauen sich die Montagsdemonstranten mit Transparenten vor westlichen Kameras gegen den Staat zu protestieren. Etwas mehr als 200 Menschen versammeln sich auf dem Nikolaikirchhof im Zentrum Leipzigs. In der ersten Reihe steht Christian Dietrich, er trägt ein Plakat mit der Aufschrift „Versammlungsfreiheit – Vereinigungsfreiheit“.

„Dann haben wir ja, wohlwissend, dass es nicht funktioniert einen Zug gebildet und vor den Kameras in Richtung Polizisten, ich muss sagen ein bisschen feige. Wir hätten ruhig noch weiter rangehen können. Und danach haben die die Ketten geöffnet. Die dachten jetzt ist alles vorbei, die Kameras sind eingepackt. Die waren auch eingepackt. Und dann hat sich ein Zug formiert, Richtung Hauptbahnhof. Das war ja dann auch die Richtung, die dann später verwendet worden ist. Der war aber ohne Kamera.“ Die Kameras der westlichen Agenturen hatten bereits genug Material aufgenommen. Über den Umweg Fernsehen gelangt der kleine Protest dann zurück in die DDR. Dem Staatsapparat gefällt das nicht.

Eine Woche später werden deshalb viele der Demonstranten vom 4. September gezielt festgenommen. Die Beamten der Volkspolizei notieren am 11. September 1989: „Einsatz der Deutschen Volkspolizei zur Bekämpfung einer Zusammenrottung im Bereich Nikolaikirchhof. Nach Abschluss des Friedensgebets gegen 17.45 Uhr verblieben ca. 500 Personen auf dem Nikolaikirchhof. Damit trat eine erhebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ein. Gegen 19.30 Uhr waren alle Ansammlungen aufgelöst. Weitere Zuführungen waren erforderlich.“ Zuführungen, das steht im Jargon der DDR-Staatsorgane für Verhaftungen. Insgesamt werden an diesem Montag etwa 100 Demonstranten festgenommen. Einige der Plakatträger sitzen für vier Wochen im Gefängnis. Für Christian Dietrich im Rückblick ein entscheidender Moment: „Es gab so etwas wie eine Beschleunigung des ‚wir müssen handeln – solange noch Menschen da sind‘. Es ging gar nicht anders als jetzt oder nie.“ Sind es am 4. September nur wenige hundert, demonstrieren bereits am 9. Oktober fast 75.000 Menschen auf dem Leipziger Ring. Christian Dietrichs persönlicher Höhepunkt im Herbst 1989.

Auf dem Augustusplatz als dann aus allen Ecken die Leute kamen, da ist der Jochen Lässig hochgesprungen: „Wir habens geschafft!“

Heute 

Christian Dietrichs Freund Jochen Lässig sollte Recht behalten. Aus der kleinen Leipziger Opposition war innerhalb weniger Tage eine Massenbewegung geworden und der ungeduldige Optimist Christian Dietrich hat mit den Ideen des gewaltfreien Widerstands seinen Anteil zur friedlichen Revolution beigetragen.

Redaktion