„Der Überläufer“ von Siegfried Lenz: Ein Gespräch über eine Buch-Sensation

„Er! In dieser Zeit! Was hätte der bewegen können!“

Ein Text wird vom Verlag abgelehnt. Der Autor legt ihn in die Schublade – und lässt ihn dort. Für 65 Jahre. Erst nach seinem Tod erscheint der Roman. Und wird zum absoluten Bestseller. Historiker und Kulturwissenschaftler Andreas Kötzing hat ihn gelesen. Ein Gespräch über einen Text, der sich am Ende vielleicht als die Buchsensation des Jahres 2016 herausstellen könnte.

Wenn Journalisten ein Buch besprechen wollen, sendet ihnen der Verlag dieses meist gratis zu – als sogenanntes „Rezensionsexemplar“. Und weil dies geschehen muss, bevor das Buch veröffentlicht wird, handelt es sich in aller Regel um die ersten Exemplare, die aus der Druckerei kommen.

So auch geschehen im Fall des Überläufers von Siegfried Lenz, mit einer kleinen Ausnahme. Im Buch, das Andreas Kötzing für detektor.fm lesen durfte, steht: 2. Auflage.

Bei Hoffman & Campe musste man nachdrucken. Und zwar schnell. Sehr schnell. Das Buch war kaum angekündigt, da war die erste Auflage über Vorbestellungen ausverkauft. Immerhin 50.000 Stück. Am Tag bevor das Buch erscheinen sollte, wurde bereits die dritte Auflage gedruckt. Etliche Händler konnten oder wollten der überbordenden Nachfrage nicht mehr standhalten und begannen schon vor dem Veröffentlichungstermin mit dem Verkauf.

Ein Buch über Überläufer – in einer Republik, die davon nix wissen will

Siegfried Lenz war 25, als er bei Hoffmann & Campe das Manuskript für den „Überläufer“ einreichte. Ein junger Autor, der auf einen mehr als skeptischen Lektor traf. Das wolle doch keiner mehr lesen, nicht in dieser Zeit, und überhaupt mache er, der junge Autor, es nicht nur sich unnötig schwer damit, sondern auch so vielen anderen Menschen, die den Krieg vergessen und das neue Land aufbauen wollten, so der Lektor – und mehr noch: „handgreifliche Treulosigkeit gegen die Heimat“ attestierte er dem Text. Und lehnte eine Veröffentlichung ab.

Die Änderungswünsche des Lektors lehnte wiederum der junge Autor ab. Und damit landete der Text in der Schublade, wo er 65 Jahre bleiben sollte.

In diesen sechs Jahrzehnten wird Siegfried Lenz berühmt. Er schreibt sich zu einem der wortgewaltigsten und wichtigsten Schriftsteller des Landes hoch, seine „Deutschstunde“ haben ganze Generationen in der Schule gelesen. Im Frühjahr 2016 steht Siegfried Lenz, obwohl schon anderthalb Jahre verstorben, wieder auf Platz 1 der Bestsellerlisten – mit dem Text, den Hoffmann & Campe 1952 abgelehnt hat.

Ist der Text gut? Oder nur seine Geschichte?

Es geht um einen jungen Soldaten, Walter Proska, der sich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs mit seiner Einheit auf dem Rückzug befindet. Der Zug gerät in eine Sprengfalle, Walter Proska überlebt als einziger. Er schließt sich einer versprengten deutschen Einheit an, nicht aber, ohne sich vorher in eine Partisanin zu verlieben.

An welcher Stelle das spannend wird, warum der Text zu seiner Entstehungszeit ein sensibles Thema anfasste und ob, angesichts des riesigen Erfolgs, der Text wirklich gut ist oder „nur“ die Geschichte um den Text, darüber spricht Marcus Engert mit Andreas Kötzing. Er hat sich als Kulturwissenschaftler und Historiker auf deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte und Film- und Mediengeschichte im 20. Jahrhundert spezialisiert und den „Überläufer“ für detektor.fm gelesen.

Redaktion