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Album der Woche: Bon Iver – Bon Iver

Drei Jahre hat es gedauert, bevor Justin Vernon alias Bon Iver einen würdigen Nachfolger für sein Debütalbum „For Emma, Forever Ago“ fertiggestellt hat – immerhin war er in der Zwischenzeit mit diversen anderen musikalischen Projekten beschäftigt. Die musikalischen Abstecher haben dem selbstbetitelten Zweitwerk von Bon Iver allerdings nicht geschadet – im Gegenteil: die Pause und offenbar auch die Inspiration durch andere Stilrichtungen haben das Album eher bereichert.

War das Debüt von Bon Iver noch geprägt von einem extrem reduzierten Klang und minimalistischen Arrangements, sind die Songs auf dem neuen Album durchweg komplexer, üppiger arrangiert und mit deutlich mehr Aufwand produziert. Auf dem ersten Album war Justin Vernon mehr oder weniger allein mit sich und seiner Akustik-Gitarre, jetzt sind unerwartet poppige Synthie-Sounds und elektrische Gitarren zu hören – ein völlig neues Energielevel bei Bon Iver.

Die Arbeit an seinem zweiten Album verlief nach der langen Pause nicht ganz ohne Startschwierigkeiten für Justin Vernon – er sagt über sich selbst, er habe regelrecht verlernt, wie man Songs schreibt. Ganz so stimmt das natürlich nicht, Vernon hatte diesmal nur eine andere Herangehensweise als zuvor. Statt die Songs ganz allein für sich nur mit Gitarre zu schreiben, waren diesmal die Musiker aus seiner Live-Band von Anfang an am Schreibprozess beteiligt. Es war für Vernon eine gute Möglichkeit, seine eigene Rolle als Autor und Kopf der Band aufzuweichen, sich ein bisschen zurückzunehmen und zu schauen, was die anderen beizutragen haben. Ziel war nicht immer, gleich einen Song zu schreiben. Oft waren einzelne Sounds Ausgangspunkt und Inspirationsquelle für das Material, das letztlich auf dem Album gelandet ist. Vor allem in den Intros für viele der Songs spürt man förmlich noch diesen besonderen kreativen Prozess – oft sind diese zunächst eher karge Klanglandschaften, die erst nach und nach ausgefüllt werden mit einer erkennbaren Melodie und Vernons Gesang.

Das Album im Stream

Ungewöhnliche Orte scheinen eine besondere Anziehung auszuüben auf Justin Vernon. Sein erstes Album For Emma, Forever Ago entstand in der Abgeschiedenheit einer Jagdhütte irgendwo in den Wäldern von Wisconsin, der selbstbetitelte Nachfolger nun in einer ehemaligen Tierklinik. Gemeinsam mit seinem Bruder baute Vernon die Räume zu einem Studio um – tagsüber waren die beiden mit dem Umbau und Einrichten beschäftigt, abends waren dann die Songs dran.

Zehn Stücke sind auf diese Weise entstanden – Songs, die ebenfalls von Vernons Hang zu obskuren Lokalitäten zeugen. In vielen Songtiteln tauchen Ortsnamen auf, nicht alle davon sind real. In einigen, wie dem australischen Perth, war Vernon tatsächlich und schreibt im gleichnamigen Song über seine Eindrücke von der Stadt – oder eher von sich selbst in Beziehung zu dieser Stadt. Andere Titel sind offenbar eher assoziativ, basieren auf Wortspielen oder auch schon mal komplett erfunden.

Michicant ist einer dieser Songs, dessen Titel die musikalische Verspieltheit des Stücks widerspiegelt, auch wenn er sehr melancholisch anmutet. Es sind Kindheitserinnerungen, die hier auf phantasievolle Weise in Musik übersetzt sind. Vernons warmer Gesang schwebt über einem simplen Walzertakt, auf dem sich verspielte Klangmomente aufreihen; Glöckchen, Fahrradklingeln und andere Sounds aus der Effekte-Kiste versetzen sanft, aber nachdrücklich in eine unbeschwertere Zeit zurück.

Den Mythos vom einsamen, therapeutischen Songschreiben eines verlassenen Mannes in einer abgeschiedenen Hütte irgendwo in Wisconsin hat Justin Vernon wohl endgültig hinter sich gelassen, auch wenn man sich kaum einen passenderen Gründungsmythos für das Projekt Bon Iver hätte ausdenken können. Immerhin entwickelte sich das Album For Emma, Forever Ago dank dessen schnell zu einem Überraschungshit. Die Kehrseite: Vernon wurde gehyped – und vielleicht auch ein bisschen abgestempelt – als melancholischer, bärtiger Indie-Barde.

Mittlerweile ist Vernon wieder in der Zivilisation angekommen, auch wenn das in seinem Fall immer noch Kleinstadtleben bedeutet – noch immer in seiner Heimatstadt Eau Claire, noch immer in einem sehr engen Kreis von Freunden und Vertrauten. Und noch immer haben seine Songs eine sehr intime Anmutung, bei der man sich als Zuhörer manchmal fast als Eindringling fühlt; als Voyeur, der unerlaubt einen Blick erhascht in das private Gedankenleben des Justin Vernon – auch wenn es ihm gut gelingt, sein Denken und Fühlen zu verschlüsseln und textlich in teilweise sehr abstrakte Container zu verpacken.

Bon Iver wirkt trotz der musikalischen Weiterentwicklung des Mannes hinter dem Bandnamen immer noch sehr sanft, stellenweise fast zerbrechlich – und doch steckt in den Songs eine ganz besondere Kraft. Inhaltlich erschließt sich das Album vielleicht nicht in allen Details, aber letztlich muss man nicht jedes Wort verstehen, das Vernon singt – die Musik dringt trotzdem durch an die entscheidenden Stellen in Kopf und Herz. Einfach nur schön.

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