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Lyrikerin, Dramatikerin, Spoken-Word-Artist und Musikerin: Kate Tempest
Foto: PR

Album der Woche: Kate Tempest – Let Them Eat Chaos

Wacht auf!

„Europe Is Lost“ rappt Kate Tempest im Dezember 2015. Schon ein halbes Jahr vor dem Brexit nimmt sie die Kapitulation ihrer Landsleute vor dem europäischen Gedanken vorweg. Auf ihrem neuen Album „Let Them Eat Chaos“ ist das nur eines der düsteren Bilder, die sie dort zeichnet.

Hör mir zu, bevor es zu spät ist! Das Cover von „Let Them Eat Chaos“ scheint einen verzweifelt anzuschreien. Die Erde, halb schon explodiert, schwarzweiß und nicht mehr blau, schwebt in der Finsternis. Und Kate Tempest erzählt uns etwas über diese Erde, sieben Geschichten aus der Dunkelheit. Der Ort: London. Die Protagonisten: Sieben Menschen, die um 04:18 Uhr unfreiwillig wach sind.

Dieser Uhrzeit wohnt ein ganz eigenes Gefühl inne. Der Tag gehört noch nicht deinem Arbeitgeber, deiner Familie, deinen Freunden und er gehört nicht mehr der vorangegangenen Nacht. Diese Zeit gehört einzig und allein dir. Dieses Zeitfenster ermöglicht es den Leuten, in diesen ehrlichen inneren Monolog einzutreten. Man kann auf diese Weise ins Herz dieser Menschen schauen. Sie verstecken nichts, und sie verstecken sich nicht vor sich selbst.

Ketamin zum Frühstück

Da ist Jemma. Sie lebt in einer heruntergekommenen Wohnung, mit vom Nikotin gelb-gefärbten Wänden. „Nicotine Gold“ nennt das Tempest. Jemma hat einen normalen Job, aber die Vergangenheit zerstört ihre Gegenwart. Früher gab es Ketamin zum Frühstück. Rumsaufen und rumhuren ohne Ende. Eine unglückliche Kindheit. Die Geister ihrer Vergangenheit werden sie nie loslassen.

Da ist Esther. Helfersyndrom und Weltschmerz. Nachtpflegerin. Sie zaudert mit den Menschen, mit ihrem Egoismus: Da draußen geht alles zum Teufel, Kinder werden massakriert, die Hälfte der Menschen lebt unter der Armutsgrenze – aber hey, es ist ja Happy Hour in der High Street, und neue Schuhe gibt’s auch.

Massacres, massacres, massacres/New Shoes; Half a generation live beneath the breadline/Oh but it’s Happy Our on the high street/Your kids are doped up on medical sedatives. But don’t worry bout that, man. Worry bout Terrorists

Hör zu!

Kate Tempest beobachtet die Menschen und erzählt uns von ihnen. Jeder Track ist eine Aufforderung: Hör den Menschen zu! Lass es in dein Bewusstsein!

Wir sind mittlerweile so fixiert auf unseren persönlichen Kampf, dass wir einen Fremden, der auf dem Boden liegt und unsere Hilfe benötigt, nicht als einen Menschen in einer Notlage wahrnehmen, sondern als eine Art Forderung, die an uns gestellt wird und der wir zunächst mal misstrauisch gegenüberstehen. Klar, wir leben in diesen riesigen Städten und man kann nicht jedem helfen, bla bla bla. Aber man sollte sich zumindest bewusst machen, dass es sich dort um ein menschliches Wesen handelt.

Auch Pete ist am Boden. Er hat einen Job, aber der wirft nur wenig Geld ab. Und was macht er mit dem Geld? Er versäuft es und gibt es für Drogen aus. Und er weiß es. Und er leidet darunter. Und es verwirrt ihn alles ganz furchtbar. Und er redet mit sich selbst. Mitgefühl haben, auch mit dem, der sich anscheinend selbst in sein Elend schleudert.

Ich weiß, dass ich nicht in der Position bin, irgendjemandem Lösungsvorschläge zu machen, außer mir selbst. Aber meine persönliche, bescheidene Meinung ist, dass man unbedingt versuchen muss, in der Realität, im Hier und Jetzt anzukommen. Man muss Mitgefühl haben und sich von diesem Gefühl leiten lassen – nicht von Angst und Panik. Es klingt verdammt kitschig, aber man muss versuchen, ein Leben voller Liebe zu führen.

https://www.youtube.com/watch?v=STVxdDUm1X0

Den Kontakt zur Welt verloren

What we gonna do to wake up? Ein ewiges Mantra, das die meisten Menschen auf „Let Them Eat Chaos“ vor sich hinbeten. Auch Bradley. PR-Manager. Lebt seinen Traum. Aber er kann nicht schlafen, nicht leben. Eigentlich weiß er gar nicht, ob er wach ist oder träumt. Oder ob sein Leben überhaupt schon begonnen hat? Der Kontakt zur Welt ist weg. Die vollkommene Lethargie hat sich breitgemacht.

Und Zoe, die die Miete nicht mehr zahlen kann und ihre Heimat verlassen muss. Pious, die unter ihrem Liebeskummer fast zerbricht. Und Alesha, ihr verstorbener Mann lässt sie nicht schlafen. Tempest lässt sie alle sprechen, gibt ihren Geschichten Platz. Das Grauen der Menschen wird fassbar. Aber Tempest will uns nicht Angst machen, sondern uns auffordern: Hört den Menschen genauso zu wie jetzt meiner Musik und meinen Geschichten. Es ist nicht verloren.

Wir stehen am Anfang eine Kommunikationsrevolution. Und wir fühlen uns unsicher und ängstlich, als würden wir am Rand einer Klippe stehen. Genauso haben sich die Menschen am Anfang jeder vorangegangenen Revolution gefühlt. Am Ende der Platte kommt es dann zur großen Auflösung dieser Situation, als ein extremer Sturm losbricht, was dazu führt, dass sie alle auf die Straße laufen. Sie schauen sich um und ihnen wird klar, dass sie Teil einer größeren Sache sind.

Ein Schrei in der kalten Londoner Nacht

Wie ein mächtiger Sturm überwältigt „Let Them Eat Chaos“ auch den Hörer. Die Bilder, die Tempest mit ihrer Sprache malt, sind eigenwillig aber klar. Die Beats sind die Bühne für ihr Theaterstück, die perfekte Kulisse für die existentiellen Geschichten. Geschwindigkeit und Flow von Tempest machen die Dringlichkeit ihrer Botschaft klar. Und wenn am Ende alle Geschichten von den anderen Menschen erzählt sind, gehören die letzten Zeilen ganz alleine ihr:

I’m out in the rain
it’s a cold night in London
Screaming at my loved ones
to wake up and love more.
Pleading with my loved ones
to wake up
And love more.

Redaktion: Jakob Bauer

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