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Mt. Desolation – Country-Gipfel in England

Fran Healy von Travis, Brandown Flowers von den Killers, Paul Smith von Maximo Park – sie alle haben 2010 ein Solo-Album herausgebracht. Es ist allerdings nicht nur das Vorrecht der Frontmänner und Sänger, in Bandpausen nach anderen Wegen der Selbstverwirklichung zu suchen – aktuelles Beispiel: Tim Rice-Oxley und Jesse Quin. Die beiden spielen sonst bei Keane unter anderem Klavier, Bass und Schlagzeug und haben gerade mit Unterstützung einer Reihe befreundeter Musiker ein Album aufgenommen. Mt. Desolation heißt das Projekt, genauso die Platte und stilistisch könnte sie gar nicht weiter weg von Keane sein: Quin und Rice-Oxley haben ihren Traum vom Country-Album wahr gemacht.

Mt. Desolation ist Country, so wie Brokeback Mountain ein Western ist: alle klassischen Zutaten sind da, aber es gibt auch ein subversives Element, das die üblichen Erwartungen über den Haufen wirft. Im Fall von Mt. Desolation ist die größte Überraschung, dass ausgerechnet eine Handvoll Engländer das vielleicht amerikanischste aller musikalischen Genres so authentisch bedienen kann.

Ich wollte einige Dinge in meinem Leben machen, zu denen ich bisher einfach nicht gekommen bin. Mt. Desolation verkörpert das: Einen Schritt ins Ungewisse machen, Songs in einem anderen Stil schreiben, mit unterschiedlichen Musikern zusammen arbeiten und vor allem auch mal selbst zu singen. Es ist eins von vielen Dingen, die sich wirklich nach Veränderung anfühlen.

Tim Rice-Oxley und Jesse Quin wechseln sich auf Mt. Desolation beim Singen ab und lassen sich außerdem stimmlich und instrumental unterstützen von Ehefrauen, Freunden und Musikern aus anderen Bands, die sich gleichermaßen für Country begeistern, darunter Killers-Schlagzeuger Ronnie Vannucci, Tom Hobden, der sonst bei Noah And The Whale fiedelt und Winston Marshall von Mumford & Sons, dessen Spitzname „Country“ ihn für dieses Projekt geradezu prädestinierte – ganz davon abgesehen, dass ein Banjo-Spieler auf einer echten Country-Platte natürlich unverzichtbar ist.

Als Musiker triffst du eine Menge Leute auf Tour oder bei Festivals, die wirklich talentiert sind, Gleichgesinnte, die dich unterstützen und ermutigen können – und manchmal hat man eben auch die Chance, miteinander Musik zu machen. Die einzige Gefahr bei Mt. Desolation war, dass wir zu viele Leute dazuholten. So viele Banjo-Parts kann man ja gar nicht auf ein Album packen.

Die Leidenschaft für Country und Folk bringt Jesse Quin von Haus aus mit – er sei mit Bob Dylan und einer Menge traditioneller englischer Folk-Musik groß geworden, sagt er. Die größte Herausforderung daran, ein Album wie Mt. Desolation zu machen, sei es, gute Country-Songs zu schreiben – ohne sich in Klischees zu verlieren. Und so war die Arbeit an diesem Projekt vor allem für Tim Rice-Oxley eine gute Schule im Songwriting, die immerhin in etwa 20 Demo-Versionen mündete, aus denen er und Quin am Ende für das Album auswählen konnten.

Mir wurde klar, dass ich fast ohne jede Anstrengung, ein paar Songs geschrieben hatte, die sehr emotional sind, simpel, aber trotzdem sehr eingängig. Darauf bin ich sehr stolz. Ich habe viel gelernt hierbei. Was ich am meisten an Country mag, ist, dass sich dabei niemand schämt, seine Emotionen ganz offen zu zeigen. Das funktioniert bei Rockmusik irgendwie nicht.

Ganz ehrlich – es funktioniert auch nicht in jedem Fall auf Mt. Desolation. Es braucht ein bisschen guten Willen, um diesem Album voll und ganz ins Herz zu schließen. Das liegt vor allem an Songs wie Annie Ford, bei denen nicht nur Zyniker reflexartig die Augen verdrehen müssen. Die Liebesgeschichten, die hier in Musik gefasst werden, passen nicht nur exakt ins klassische „Boy-meets-girl“-Schema – nein, hier trifft der Junge sein Mädchen außerdem noch an der „alten Sägemühle“; innerhalb einer Strophe wird geheiratet und das Familienglück mit einem Stammhalter komplettiert.


Wenn der Gesang nicht so überzeugend gefühlsecht wäre, würde man vielleicht nicht über diesen zweiten Song und sein tragisches Ende für das junge Glück hinauskommen. Der Trick ist, einfach nicht zu sehr nachzudenken bei Mt. Desolation, sondern sich darauf einzulassen, mit dieser Platte einen Abstecher zu machen in eine Welt, in der andere Regeln gelten. Hier ist alles, was man sonst in Pop- und Rockmusik als altmodisch und übersentimental abtun würde, absolut gerechtfertigt. Trotzdem ist Mt. Desolation immer dann am Schönsten, wenn Quin und Rice-Oxley die Country-Elemente auf ein Minimum beschränken und die Musik ganz aufs Wesentliche reduzieren: eine klare Melodielinie, die den Gesang trägt und ihm Raum gibt. Coming Home ist eines der Glanzstücke, die genau das tun. Der Song erzählt auch vom Streben nach den wirklich wichtigen Dingen im Leben, „…the need to feel something simple and pure“ – Dinge eben, die einfach und echt sind.

Die ganz fundamentalen Dinge bleiben doch wichtig. Wir alle stellen uns immer wieder dieselben Fragen und deshalb glaube ich auch, dass Menschen Musik lieben, die ans Herz geht und die sie über das Leben nachdenken lässt. Bestenfalls wird man davon inspiriert und bekommt ein paar Antworten. Die Platten, in die wir uns so richtig verlieben, sind doch schon immer die gewesen, die einfach von Herzen kommen.

Mit der richtigen Einstellung gehört, zählt „Mt. Desolation“ ganz sicher zu den Platten, in die man sich verlieben kann. Die Begeisterung, mit der Rice-Oxley und Quin sich ihrem Country-Projekt verschrieben haben, ist in jedem der 10 Songs zu spüren – und steckt an. Selbst wenn man sonst nichts anfangen kann mit Pedal-Steel-Gitarren und Banjo-Sound – die emotionalen Hochs und Tiefs, die Mt. Desolation aufgreift, hat jeder schon mal durchlebt: Fern- und Heimweh, Aufbruch und Nach-Hause-Kommen, enttäuschte Sehnsüchte, verpasste Chancen.

Mt. Desolation verdient ein zweites und drittes Durchhören zum Warmwerden und eine gewisse Großzügigkeit gegenüber allem, was nah an Klischee und Country-Kitsch ist. Denn was übrig bleibt, als Herzstück und Rückgrat des Albums, ist zeitloses Songwriting und gute handgemachte Musik: tolle Stimmen, Melodien, die im Ohr bleiben und großes Gefühl, das sich nicht hinter Ironie verstecken muss.

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