Saitenwechsel: Der Dirigent

Zerzaustes Haar, fokussierter Blick, präsentes Auftreten – so kennen wir sie: die Stardirigenten dieser Welt. Aber was machen die da eigentlich beim Konzert? Luft zerteilen? Und wozu braucht das Orchester überhaupt einen Dirigenten? Die haben doch Noten! Zeit für einen „Saitenwechsel“.

Saitenwechsel | detektor.fm entdeckt Klassikwird präsentiert vom Gewandhaus zu Leipzig 

Nachdem ich beim letzten Mal dem Gewandhaus-Orchester beim Proben zugesehen habe, ist mir besonders ein Bild im Kopf hängengeblieben: Dieser routinierte Ablauf zu Beginn der Probe, wenn die Musiker sich einstimmen, bis die Instrumente und das begleitende Tuscheln urplötzlich verstummen, wenn Chefdirigent Riccardo Chailly den Raum betritt.

Der Gewandhauskapellmeister hat diese Aura eines Stardirigenten. Zerzaustes Haar, fokussierter Blick, ein unglaublich präsentes Auftreten. Man spürt förmlich den Respekt im Saal vor dieser Person. Mit seinem Taktstock, seinen Armen und Augen führt er das Orchester. Er vermag es, mit einer einzigen Bewegung einen riesigen Klangapparat in Wallung zu bringen.

Wozu braucht das Orchester einen Dirigenten?

Ich hab mich ja schon immer gefragt, was das überhaupt soll. Erst mal haben die Musiker doch alle Noten vor der Nase und außerdem haben die das doch studiert. Da wird man ja wohl ein einigermaßen stimmiges Taktgefühl mitbringen. Für mich sieht das immer so aus: Die Musiker verrichten harte Arbeit, der Dirigent zerteilt die Luft mit seinen herumwirbelnden Armen. Also Herr Chailly, wofür braucht ein Orchester überhaupt einen Drigenten? Können die das nicht alleine durchziehen?

Das wäre einfacher! Für alle, auch für mich! Das Problem ist die akustische Situation für Musiker, die in einem großen Sinfonieorchester spielen. Die können nicht alles hören. Sie brauchen eine Richtung vom Dirigenten. Die Musiker selbst können das nicht kontrollieren. Denn sie hören was in der Nähe passiert, nicht aber was weit weg gespielt wird.Riccardo Chailly 

Da hat der Dirigent vom Pult aus natürlich alles im Auge und im Ohr. Und klar, wenn man mal überlegt, wie viele Musiker in so einem Sinfonieorchester sitzen: Geiger, Cellisten, Kontrabässe, Blechbläser, Holzbläser, Percussion – irgendwer muss der Rasselbande ja sagen, wo’s lang geht. Auch in Rockbands gibt’s ja meistens einen Frontmann.

Die persönliche Handschrift

Es geht nicht nur darum, dass der Dirigent den großen Überblick hat. Er hat auch einen ziemlich großen Einfluss darauf, wie das Orchester ein Werk interpretiert. Riccardo Chailly hat zum Beispiel mal einen Beethoven-Zyklus ein bisschen aufgemotzt. Auch Gewandhaus-Dramaturgin Sonja Epping kann sich daran noch gut erinnern.

Da musste er erst mal gegen eine alte Beethoven-Auffassung, die auch das Orchester transportiert hat, angehen. Die ist ja per se nicht schlecht, stammt aber aus einer anderen Zeit und wurde von anderen Dirigenten antrainiert. Er hatte eine sehr moderne Vorstellung von Beethoven. Er geht mit den originalen Metronom-Zahlen um, mit einem sehr transparenten Klangbild und etwas kleineren Besetzungen.Sonja Epping 

… und hinterlässt somit seine ganz persönliche Handschrift bei der Interpretation. Das macht ihn als Dirigenten unverwechselbar.

„Keine Luschen, die indifferent rumfuchteln“

Aber ab wann kann man eigentlich von einem „Stardirigenten“ sprechen? Was unterscheidet denn einen großen Dirigenten von einem, der vielleicht nur so semi-gut dirigiert? Ich rufe einen Musikwissenschaftler an, Wolfgang Schreiber. Er ist Feuilletonist und hat das Buch „Große Dirigenten“ geschrieben. Der muss es wissen.

Entscheidend ist die Persönlichkeit. Das ist ja auch bei Schauspielern, Sängern oder selbst bei Politikern so. Es geht um die Intensität, mit der jemand kommunizieren kann. Entweder hängt er langweilig rum – dann geht nichts von ihm aus und er erreicht nichts, verliert auch Bundestagswahlen oder er ist eine starke, charismatische Persönlichkeit, die absolut auf sich aufmerksam macht. Die erfolgreichen, großen Dirigenten haben das alle gehabt. Das waren keine Luschen, die indifferent rumfuchtelten, sondern Leute, die unglaublich präsent sind im Augenblick und alle Musiker zu fesseln verstehen.

Na klar, jede erfolgreiche Band hat ja auch ihren charismatischen Frontmann. Klassische Musik ohne Dirigenten – heutzutage unvorstellbar. Damals aber gar nicht so abwegig.

In der Barockmusik war es so, dass eine Kapelle vom Cembalo oder von der Geige aus geleitet wurde. Bach hat noch mit der Geige in der Hand dirigiert.Wolfgang Schreiber 

Geändert hat sich das im frühen 19. Jahrhundert mit der wichtiger und größer werdenden Orchestermusik. Die Partituren wurden komplexer, die Orchesterbesetzungen und Konzertsäle größer. Da brauchte man einen Dirigenten. Laut Wolfgang Schreiber waren es vor allem die Sinfonien von Beethoven, bei denen sich ein Komponist erstmals so richtig individuell ausgetobt hat.

Von der Monarchie zur Demokratie

Als erster Dirigent im heutigen Sinn gilt übrigens Felix Mendelssohn Bartholdy. Und auch der hat das Gewandhausorchester geleitet. Ab 1835 hat er den Grundstein dafür gelegt, dass der Dirigent heutzutage als Künstler wahrgenommen wird. Und nicht nur das. Der Dirigent hat ja die Macht über ein ganzes Orchester. Er führt es und die Musiker folgen ihm. Sind Dirigenten dann also totalitäre Herrscher?

Das war mal. Die Entwicklung von der Monarchie bis zur Demokratie heute spiegelt sich in der Entwicklungsgeschichte der Dirigenten wieder. Toscanini, Furtwängler – das waren die Götter, die Führer und Verführer des Publikums, die dann auch sehr autokratisch und streng auftraten. Toscanini zerbrach den Dirigentenstock und warf ihn den Musikern an den Kopf und fluchte, wenn es nicht so ging, wie er sich das vorstellte.

Verrückter Typ. Aber gut, das lief im Pop-Geschäft nicht anders. Wenn sich damals bei den Gallagher-Brüdern mal einer im Akkord vergriffen hat, sind im Proberaum schon mal die Fäuste geflogen. Na klar, in der Klassik geht es heute gesitteter zu. Eine junge Musiker-Generation mit einem demokratischen Bewusstsein hat nun mal andere Vorstellungen. Und nachdem ich dem Gewandhausorchester beim Proben zugesehen habe, kann ich bestätigen: In den Medien mag Riccardo Chailly der Stardirigent sein, das mythische Wesen. Im Konzertsaal aber treffen sich Dirigent und Orchester auf Augenhöhe.

Ich liebe Disziplin und Stille. Wen diese beiden Sachen hundert Prozent klar sind, dann gibt es Raum für Spaß, auch für Scherze.


Verwendete Musik im Beitrag:

Redaktion