Ein nasskalter Tag im Dezember, die Stadt hat sich in einen weißen Mantel gehüllt. Durch den Schnee klingt alles ein bisschen dumpfer als sonst. Anders im Gewandhaus: Hier schallt es in diesen Tagen aus vollen Kehlen.
Der Gewandhauschor singt sich ein für das, was da kommt im Dezember.
Das sind Jahresrituale. Ein Weihnachtsoratorium – das gehört irgendwie dazu, damit Weihnachten werden kann.
…sagt Arno Hieser. Er singt Bass im Gewandhauschor. Das Weihnachtoratorium steht heute auf dem Probenplan.
Das Weihnachtsoratorium ist hier in Leipzig so was wie das Last Christmas der Klassik. Naja, zumindest was die Popularität angeht. Chorleiter Gregor Meyer erzählt mir von Johann Sebastian Bach. Er hat das Oratorium komponiert. Und während seiner Amtszeit im 18. Jahrhundert wurde es in der Nikolai- und Thomaskirche uraufgeführt.
Das Weihnachtsoratorium ist sehr eng mit dieser Stadt verbunden, natürlich in erster Linie durch Johann Sebastian Bach. Es gab eine Zeit, in der das Weihnachtsoratorium insgesamt von der Bildfläche verschwunden ist. Aber seit ungefähr 80 Jahren gehört es in Leipzig zum festen Musikleben. Es ist quasi unerschöpflich und dauerbelastbar was den Wiederholungseffekt anbelangt. Alle singen und hören es immer wieder gern. Und daraus entsteht ein Bedarf, der im Grunde genommen nie so richtig zu sättigen ist.
Also ich wüsste da einen Song, der alles andere als unerschöpflich und dauerbelastbar ist. Wham! Ja, das ist Folter. Jedes Jahr dieselbe Leier. George Michael, was hast du nur aus Weihnachten gemacht? Und wieso soll das eigentlich beim Weihnachtsoratorium anders sein? Nervt Bach nicht auch, wenn er immer im Dezember mit ein und demselben Song um die Ecke kommt?
Jeder Dirigent hat eine andere Idee von einem Tempo, von dynamischen Abstufungen, von Affekten, die er in der Musik unterbringen möchte. Das führt dazu, dass keine Aufführung eines Weihnachtsoratoriums einer anderen gleicht. Auch aus persönlicher Erfahrung wird das jedes Mal ein bisschen anders, weil man vielleicht merkt: Auf diese Stelle möchte ich im nächsten Jahr mal eine andere Perspektive anwenden.
Und zum Glück gibt’s auch in der Popmusik Mut zur Variation, so dass man selbst aus Last Christmas noch was rausholen kann. Der Norweger Erlend Oye macht’s vor.
Fakt ist: In der Vorweihnachtszeit wird so viel gesungen wie sonst nie. Es gibt gut besuchte Chorkonzerte en masse. Und gerade das Singen im Chor führt uns zum Kern des Musikmachens. Ich telefoniere mit dem Psychologen und Hirnforscher Manfred Spitzer. Er berichtet mir von einem Experiment, bei dem man das gesamte Genom vieler Musiker untersucht und verglichen hat mit dem Genom von Menschen, die eher nichts mit Musik am Hut haben. Man wollte rausfinden: Gibt es da Gene, die irgendwas mit Musikalität zu tun haben?
Die Antwort ist: Ja, die gibt es! Es sind unter anderem Gene, die auch für Sozialverhalten zuständig sind. Und das unterstützt Gedanken, die man früher auch schon gehabt hat, nämlich dass Musik ursprünglich ein Gemeinschaftsphänomen war. Man kann auch alleine Singen und Pfeifen, aber unter uns: Es macht nicht so viel Spaß!
Nö, da hat er Recht. Und gerade deswegen macht das Singen im Chor nicht nur musikalisch was her. Hier geht’s auch noch um was ganz anderes.
Man ist Teil der Gruppe und spürt das auch richtig körperlich. Gleichzeitig kann man Dinge wiederholen und damit ins Gedächtnis hineinbringen, vielleicht auch bestimmte Formen oder kulturelle Werte. Musik und Sozialverhalten – das ist ganz eng beieinander. Nun sind wir Menschen vielleicht die sozialste Spezies, die auf dem Planten herumläuft mit unseren unglaublich großen Gesellschaften. Deswegen ergibt es sehr viel Sinn, dass in allen Gesellschaften, die man bislang untersucht hat, Musik tatsächlich vorkam.
Musik ist also gewissermaßen immer auch ein soziales Gefüge. Und nirgendwo wird das deutlicher als im Chor. Im Gewandhaus gibt es neben dem normalen Chor auch einen Kinderchor. Dessen Leiter Frank-Steffen Elster berichtet mir, dass die Kinder aus den verschiedensten Verhältnissen stammen.
Sobald die Kinder hier im Chor sind und das Singen, die Musik und der Chor als Gemeinschaft im Vordergrund stehen, spielt die häusliche Herkunft eine vollkommen untergeordnete Rolle. Da ist es wirklich egal, ob ich jetzt das Kind vom Chefarzt bin oder die Tochter einer ganz einfachen Angestellten.
Heute probt der Kinderchor ein Stück von Claude Debussy. Daneben stehen aber auch traditionelle Weihnachtslieder auf dem Programm. Wenn man jetzt bedenkt, dass im Kinderchor auch Acht- bis Zwölftklässler singen: Haben die da überhaupt Bock drauf?
Sie glauben gar nicht, wie traditionell die sein können. Manchmal mehr als wir Erwachsenen, die sich immer wieder was Neues einfallen lassen, weil man Angst hat, es könnte zu wiederholt sein oder zu normal. Das ist wie wenn man als Kind eine bestimmte Art eines Weihnachtsbaumes kennengelernt hat, so möchte man den immer wieder haben und möchte gar nichts ändern daran. Genauso geht es auch oftmals den Chormitgliedern, wenn sie solche Dinge liebgewinnen und das Vertraute das am nächsten liegende ist.
Kinder und Jugendliche, die gerne Weihnachtslieder singen – das ist aber auch ein Bild, das aus den Wohnzimmern immer mehr verschwindet. Laut Studien singt gerade mal ein Fünftel der Deutschen Weihnachtslieder noch selbst. Für den Ethnologen und Weihnachtsforscher Rüdiger Vossen ist die Sache klar.
Das verschwindet aufgrund der Tatsache, dass es ja immer mehr Weihnachtslieder aus verschiedenen Ländern gibt, die auf Schallplatte, CD und allen anderen Medien schon Monate vorher erklingen. Und ich denke, dadurch verlieren die Menschen die Lust am eigenen Singen, weil diese perfekten Medien das sehr viel besser rüberbringen.
Na gut, aber Weihnachten mit den immer gleichen Aufnahmen aus der Konserve zu verbringen ist auch nur mäßig besinnlich. Dann schon lieber das Live-Erlebnis in einem großen Konzertsaal oder einer Kirche. Und das denken sich eine ganze Menge Leute. Schließlich sind die Konzerte in der Vorweihnachtszeit allesamt rammelvoll. Das heißt, zwischen Geschenke kaufen, Weihnachtsmarkt und Plätzchen backen rennen die Leute auch noch ins Konzert. Warum tut man sich das an?
Ich glaube gar nicht, dass das damit zu tun hat, sich etwas anzutun, es sei denn sich etwas Gutes zu tun. Gerade in dem Weihnachts-Stress Abstand zu gewinnen von dem sonstigen Weihnachtsrummel und von den vielen Erwartungen, die die Familie und auch die Geschäftswelt an einen selbst stellt. Zu Weihnachten werden die Bilanzen vorbereitet und die Börse erwartet gute Ergebnisse. Aber um sich von all dem zu befreien, ist so ein Weihnachtskonzert – und wenn möglich das eigene Singen – eine gute Entspannung.
Und auch Gewandhauschor-Sänger Arno Hieser stimmt ein.
Es geht weniger darum, alles unter einen Hut zu kriegen, als hier Zeit für Weihnachten und Besinnlichkeit zu haben, gerade in der Musik.
Die willkommene Auszeit vom alljährlichen Weihnachts-Wahn – wahrscheinlich ist sie irgendwo in der Musik. Kann man ja mal ausprobieren und zum Konzert gehen. Oder noch besser: Selber singen!