Wenn man einen Konzertsaal betritt, ist man erst mal allein vom Raum als solches überwältigt. Man spürt sofort, dass hier irgendwas Magisches passiert. Etwas, das man nur in einem bestimmten Moment in diesem Raum erleben kann, weil viele Musiker diesen Moment erzeugen und man den exklusiv mit den anderen Zuhörern teilt. Steht diese Welt nicht total im Widerspruch zur Online-Welt? Also einer Welt, in der alles dutzende Male reproduzierbar und für jeden zu jeder Zeit zugänglich ist. Lässt sich denn die Magie von Mahler und Bach einfach so in Bits und Bytes übersetzen?
Setzen wir doch mal an einem Ort an, den man auf den ersten Blick so gar nicht mit der digitalen Welt assoziiert: Das idyllische Glyndebourne.
Glyndebourne liegt auf dem Land, zwei Autostunden südlich von London. Auf dem Grundstück eines ehemaligen Landhauses findet hier jährlich ein großes Opern-Festival statt. Entlang der Wiesen und Gärten flanieren die Besucher in schicker Abendgarderobe zur Oper. In den Pausen gibt es das Fünf-Gänge-Picknick im Grünen. Wer nicht dabei sein kann, kann das Spektakel live im Netz verfolgen – auf der Webseite des Guardian. Aber funktioniert diese Atmosphäre auch im Netz? Nachgefragt bei George Bruell vom Glyndebourne Festival.
Man muss da realistisch bleiben: Wie fortschrittlich die Technologie auch sein mag, sie wird nie die Erfahrung ersetzen, in einem Konzertsaal zu sitzen oder durch die Gärten von Glyndebourne zu flanieren. Die Frage ist: Können wir dem Publikum zumindest einen Eindruck vermitteln von der Magie, die hier passiert?
Dass das gelingt, zeigt das positive Feedback der Nutzer. Dank der Interaktion in den sozialen Netzwerken gibt es das meistens direkt nach der Konzerterfahrung im Netz.
Da schrieb uns jemand, wie er an einem Sonntagnachmittag eigentlich nur die Nachrichten auf der Guardian-Webseite ansehen wollte. Er stolperte aber über den Artikel, in dem angekündigt wurde, dass gleich eine Oper aus Glyndebourne live übertragen wird. Anderthalb Stunden später saß er begeistert vor dem Monitor. Das ist eine tolle Geschichte, wie jemand spontan, fast zufällig, eine Kunstform entdeckt, die noch viel tun muss, um von einer breiteren Masse entdeckt zu werden.
Die Mittel sind ja da. Und ob per Livestream, Blogs oder den sozialen Medien – liegt nicht gerade hier die Chance, ein junges Publikum zu erreichen, dass den Konzertsaal sonst eher meidet? Ich rufe den Kultur- und Medienforscher Wolfgang Schweiger an.
Der ganze Komplex Hochkultur leidet immens unter einer Überalterung des Publikums. Natürlich haben alle den Drang ein jüngeres Publikum zu erreichen. Da sind die Sozialen Medien ideal. Es kommt hinzu, dass Theater und zum Teil auch Orchester eigentlich wunderbaren Content haben. Dort gibt es schöne Bilder, schöne Musik, es gibt Dramen und Stars. Es hat dort eigentlich alles, was interessant ist. Einen besseren Content als in diesem Feld, findet man eigentlich gar nicht.
Die meisten Orchester haben das erkannt und nutzen die neuen Medien. Auch das Gewandhaus zu Leipzig twittert, nutzt Facebook und betreibt einen eigenen Tournee-Blog. Gewandhausdirektor Andreas Schulz ist sich der Vorteile gegenüber den traditionellen Medien bewusst.
Das Internet kann diese sehr schnelle Live-Berichterstattung liefern. Das können Zeitungen immer nur um einen Tag versetzt anbieten. Deswegen wollen wir das Netz in den nächsten Jahren noch viel intensiver nutzen. Es ist ein sehr wichtiger Informationskanal. Ob er die Intensität und die Wichtigkeit von heute auch noch in zehn Jahren hat, wird interessant sein abzuwarten. Denn auch andere große Social-Media-Plattformen, die vor fünf Jahren in waren, sind heute nicht mehr da.
Kennt jemand noch dieses „Myspace“? Vor fünf Jahren hatte ungefähr jeder, der gerade so eine Gitarre halten konnte ein Band-Profil bei Myspace. Heute ist das Netzwerk mehr oder weniger ein Daten-Friedhof. Und auch im Klassik-Betrieb gibt es Fälle, bei denen es mal nicht so gut lief. Die Duisburger Philharmoniker waren eines der ersten Orchester in Deutschland, die einen Blog hatten. Dennoch haben die Verantwortlichen den Betrieb mittlerweile eingestellt. Man wolle sich „auf das Wesentliche konzentrieren“ und „Kapazitäten einsparen“, hieß es damals. Gibt es denn auch beim Gewandhausorchester manchmal Zweifel an den digitalen Medien?
Den habe ich bislang noch nicht gehabt. Ich finde es sehr schön, anders zu berichten. Denn in der Presse lesen Sie bestenfalls vom Konzert: Das Konzert war super oder es war nicht ganz so gut oder es ist dieses oder jenes vorgefallen. Die Presse berichtet aber nicht vom Drumherum: Wie anstrengend war die Reise zur Tournee? Wer sind die Menschen im Hintergrund, die die Bühne immer auf- und abbauen. Was hat eigentlich der begleitende Arzt zu tun?
All das erfährt man auf dem Blog des Gewandhauses. Dabei ist es gerade für große Konzerthäuser manchmal gar nicht so einfach, dieses schnelle Medium zu nutzen, weiß Wolfgang Schweiger.
Hochkultureinrichtungen sind in der Regel relativ komplexe Organisationen. Das ist mir klar geworden, als ich Opernverantwortlichen erzählt habe, dass sie mehr soziale Medien nutzen sollten. Die Verantwortlichen haben gemeint, dass sie keine Rechte für Aufzeichnungen hätten. Sie müssten das mit dem Orchester abklären, ob sie die Rechte haben um das online zu stellen. Sie könnten nicht irgendwelche Fotos von Proben online stellen, weil dann eventuell ein Sänger beleidigt wäre. Da gibt es tatsächlich größere Probleme die zum Teil juristischer oder arbeitsrechtlicher Natur sind.
Dennoch lohnt sich der Aufwand. Denn gerade hier hat das Orchester die Möglichkeit, direkt mit seinem Publikum in Kontakt zu treten. Und auch die Live-Übertragung von Konzerten im Netz oder in Kinos ist doch eine Chance, die Leute anzusprechen, die sich die Eintrittskarte vielleicht nicht leisten können. Außerdem kann man die ganze Welt an etwas teilhaben lassen, das im Moment der Aufführung sonst nur einer kleinen Gruppe vorbehalten sein würde. So wie im April dieses Jahres, als das Gewandhausorchester zum Papst-Geburtstag im Vatikan gespielt hat. Auf der Webseite der DHL konnte man das Spektakel im Livestream verfolgen. Doch auch Dirk Ude von der DHL ist sich bewusst:
Das Orchester live in der Konzerthalle kann man nicht ersetzten. Aber auf der anderen Seite wissen wir auch: Man kann nicht immer überall persönlich präsent sein. Da gibt einem so ein Live-Stream die tolle Gelegenheit ein Konzert trotzdem zu hören und sich das anzuschauen. Das ist ein Zusatzangebot, welches das Live-Erlebnis nicht ersetzen kann. Ich denke wir werden das immer weiter ausweiten, weil das Interesse da ist und weil das Zukunft hat. Aber letztendlich ist das wie beim Fußballspiel. Das Live-Erlebnis im Stadion ist immer noch etwas ganz besonderes und das Eine kann das Andere nicht ersetzen.
Der große Pluspunkt ist: Es kann dem Ganzen etwas hinzufügen. Denn viele Kameras sehen nun mal mehr als zwei Augen im Zuschauerraum. Beim Glyndebourne Festival arbeiten laut George Bruell deswegen Film- und Bühnenregisseur Hand in Hand.
Man bekommt manchmal einen besseren Einblick in das Konzertgeschehen, wegen der vielen Kameras die wir im Einsatz haben. Man kann Dinge sehen, die man selbst auf dem besten Platz im Zuschauerraum nicht sehen kann. Deswegen ist es bei uns sehr wichtig, dass der Film-Regisseur Hand in Hand mit dem Bühnen-Regisseur arbeitet.
Klassik- und Online-Welt sind sich also gar nicht so fremd. Und auch wenn die Popkultur hier vielleicht ein bisschen Vorsprung hat, so haben doch auch die Klassik-Vertreter die Zeichen der Zeit längst erkannt. Und wer Berührungsängste mit klassischer Musik hat, kann auf diese Weise mal ganz unbefangen reinklicken.