Saitenwechsel: Michael Gandolfi – Ascending Light

Wiegenlied zum Völkermord

Bis zu 1,5 Millionen Armenier starben in den Jahren 1915 und 1916, systematisch getötet im Auftrag des Osmanischen Reiches. Über 100 Jahre dauerte es, bis die mitwissenden Deutschen das Massaker offiziell zum Völkermord erklärten. Gut, dass Musik dem kollektiven Gedächtnis auf die Sprünge helfen kann.

+++Saitenwechsel wird präsentiert vom Gewandhausorchester.+++


Saitenwechsel wird präsentiert vom Gewandhausorchester.

Istanbul im April 1915: Türkische Behörden verhaften die gesamte Führungsschicht des armenischen Volkes, Politiker, Priester, Kulturschaffende. Als Grund gibt die osmanische Führung an, die Armenier würden mit dem Kriegsgegner Russland kooperieren. Es ist der Auftakt zu einem systematischen Völkermord. In den Jahren 1915 und 1916 deportiert, enteignet, foltert und tötet das Osmanische Reich Schätzungen zufolge zwischen 800.000 und 1,5 Millionen Armenier.

100 Jahre später ist sich die Welt uneins über die historischen Ereignisse. Die Türkei wehrt sich entschieden gegen die Ausdrücke Völkermord und Genozid. Und US-Präsident Barack Obama vermeidet 2015 zum 100. Jahrestag des Massakers den Begriff Völkermord. Aus Rücksicht vor dem wichtigen Verbündeten Türkei.

Michael Gandolfi und seine Utopie einer besseren Welt

Anders sieht es da in der Kultur aus. Anlässlich des 100. Jahrestages gibt das Boston Symphony Orchestra ein Werk in Auftrag, das an die schrecklichen Ereignisse erinnern soll. Komponieren soll es der Amerikaner Michael Gandolfi, Jahrgang 1956. Doch wie wird man einem so brutalen Thema musikalisch gerecht?

Gandolfis Idee ist es, nicht die Schrecken des Genozids auszumalen, sondern – was die Musik ja immer gerne tut – eine Utopie in den Raum zu stellen. Einerseits das Gedenken, andererseits dieses Bild einer viel besseren Welt und das Positive, was diese uralte, christliche Glaubensgemeinschaft transportiert.Ann-Katrin Zimmermann 

Weltliche und geistliche Musik aus Armenien

Michael Gandolfi greift auf die armenischen Bräuche und Gesänge zurück und beschäftigt sich in seiner Recherche viel mit armenischen Wiegenliedern

Ich bin dann auf ein Wiegenlied namens „Lullaby of Tigranakert“ gestoßen. Tigkranakert ist die antike Hauptstadt von Armenien. Das habe ich kombiniert mit einer alten armenischen Melodie. Diese Melodie wird in Gottesdiensten verwendet, zu einem Text, dessen Titel übersetzt „Ascending Light“ lautet.Michael Gandolfi, Komponist 

Armenisches Liedgut auf westlicher Orgel

Ascending Light“, also „aufsteigendes Licht“, so heißt dann auch das Werk, dass Michael Gandolfi im Auftrag des Boston Symphony Orchestra komponiert. Ein Werk, das armenische mit westlicher Kultur vermischt. Denn schließlich sind es hier Orgel und Orchester, die das armenische Liedgut in ein neues Klanggewand stecken.

Das wird natürlich in unser Notensystem übertragen und ist nicht mehr das Volkslied im Original. Das gelingt Gandolfi aber sehr gut und lässt sich auf der Orgel schön umsetzen. Die Orgel hat ja auch verschiedene Stimmen, die so etwas durchaus nachahmen können.Michael Schönheit 

Musikalische Erinnerungskultur

Zwar waren es die Türken, die den Völkermord an den Armeniern begingen, doch auch die zu der Zeit verbündeten Deutschen tragen eine Mitschuld. Deutsche Diplomaten wussten ziemlich genau, was im Osmanischen Reich vor sich ging. Unternommen hat die Regierung in Berlin damals nichts. Und erst über 100 Jahre später, im Juni 2016, hat der Bundestag in einer Resolution die Verbrechen an den Armeniern zum Völkermord erklärt.

Gut, dass die Musik mit ihren Mitteln dem kollektiven Gedächtnis auf die Sprünge hilft. Denn genau das macht „Ascending Light“ von Michael Gandolfi. Indem es die Vision einer besseren Welt zeichnet. Indem es die armenische Musik zitiert und feiert.

Redaktion