Saitenwechsel | Minimal Music

Schwebezustand und Trance

Minimal Music lebt davon, dass im Prinzip nicht viel passiert. Pattern werden ständig wiederholt und nur schleichend verändert sich der Klang. Was in den 1960ern mit Experimenten begann, fließt bis heute in Elektro- und Filmmusik ein.

+++Saitenwechsel wird präsentiert vom Gewandhausorchester.+++


Saitenwechsel wird präsentiert vom Gewandhausorchester.

Minimal verbinden wahrscheinlich viele erst mal mit elektronischer Tanzmusik: Minimal Techno. Die Musik basiert auf Wiederholung, es passiert eigentlich nicht viel, bestimmte kleine Pattern werden immer wiederholt, der Rhythmus bleibt die meiste Zeit gleich.

Was erst mal einfach klingt und für uns inzwischen längst gewohnt, ist in den 1960er Jahren ein krasser Bruch in der Musikwelt: Aus dieser Zeit stammt die Musik, die Musikwissenschaftler heute als Minimal Music bezeichnen, auch wenn die vier Komponisten, die da vor allem genannt werden, diesen Begriff eher ablehnen.

Steve Reich, La Monte Young, Terry Riley und Philipp Glass studieren alle an Musikhochschulen in den USA und wollen etwas grundlegend anderes machen als alle Komponisten vor ihnen. Die eurozentristische Kompositionslehre hinterfragen sie.

Alle vier gehen auf Reisen, um sich von außereuropäischer Musik inspirieren zu lassen – Steve Reich etwa ist besonders fasziniert von der Trommelmusik, die er in Ghana kennen lernt. Außerdem nutzen die Komponisten die neuen Musikmedien ihrer Zeit und experimentieren mit Tonbandgeräten.

Terry Riley nutzt Elektronik, um psychedelische Effekte zu erzeugen und sich und das Publikum in bewusstseinserweiternde Zustände zu bringen – ja, Drogen werden dazu auch konsumiert. Riley verlangsamt und überlagert Tonbänder und schafft damit Sounds, die Wegbereiter für den Techno, Rock und Pop sind. Sein Stück A Rainbow in Curved Air (1969) mit elektrischer Orgel hat unter anderem Pete Townshend von The Who beeinflusst.

Auch Steve Reich experimentiert mit Elektronik und nimmt daraus Inspiration für seine Instrumentalstücke:

Er hat zwei Tonbandgeräte angemacht, wo das gleiche drauf ist, und weil die nicht exakt gleich liefen, differierte das auseinander und er hat erkannt, dass das klasse klingt und völlig absurd ist. – Steffen Schleiermacher, Komponist und Pianist

Die Zeitverzögerung, die bei den Tonbandgeräten aus Versehen passiert, lässt Steve Reich in seinem Stück „Piano Phase“ gezielt von den Musikern erzeugen. Am Anfang spielen zwei Pianisten simultan das genau gleiche, ein relativ einfaches Pattern. Aber einer von beiden hat die Aufgabe, mit der Zeit immer schneller zu werden, unmerklich ohne Bruch, bis die beiden Stimmen irgendwann um einen Ton verschoben sind. Was dabei entsteht, nennt Steffen Schleiermacher einen Schwebezustand, auf den sich nicht jeder gut einlassen kann.

Schwebezustand, Trance – Minimal Music will offenbar den Hörer in einen ganz besonderen Zustand versetzen. Ein Zustand, wo das Gehirn nicht intellektuell Formen mitvollzieht und Entwicklungen folgt, Motive wiedererkennt und verknüpft.

Genau darum dreht sich auch Martin Kohlstedts Musik. Der Pianist aus Thüringen bespielt inzwischen große Säle wie die Elbphilharmonie in Hamburg aber auch auf Elektrofestivals. Der Ursprung seiner Musik kommt der Minimal Music sehr nah, nur kannte er die zu der Zeit noch gar nicht. Als Zwölfjähriger setzt er sich ans Klavier und schlägt im Takt zum Sekundenzeiger der Wohnzimmeruhr immer bloß eine Taste an, den Ton A.

Im Vergleich zur Minimal Music, die den Hörer beglücken soll, habe ich versucht, mich selbst in diesen Minimal-Zustand zu begeben. Ich habe diese Taste gedrückt und zusätzliche Töne immer wiederholt bis der Mund aufging und ein Tropfen Spucke raus fiel und man immer weiter über die Hürde der Langeweile ins Unterbewusstsein gekommen ist.Martin Kohlstedt 

Wieso Martin Kohlstedt Steve Reich als seine „quasi einzig mögliche Vorband“ bezeichnet, ergründet er mit Eva Morlang im Saitenwechsel.