Ach, Mensch! | Ulrike Bialas

Was bedeutet Erwachsensein für junge Flüchtlinge, Ulrike Bialas?

Unter 18 oder über 18 Jahre alt? Welche Rolle spielt das Alter für junge Flüchtlinge in Deutschland, Ulrike Bialas?

Junge Schutzsuchende und die Volljährigkeit

Wenn junge Menschen ohne Eltern, ohne Schutzbefohlene aus ihrem Heimatland flüchten, sind sie erst einmal auf sich gestellt. Die Verantwortung für ihr Leben tragen sie selbst. Die Flucht ist verbunden mit der Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben mit besseren Zukunftschancen. Angekommen in Deutschland, interessiert die Behörden aber zuerst eine Frage: Wie alt sind die jungen Flüchtlinge? Denn welche Verantwortung der Staat für die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen übernimmt, hängt vor allem davon ab, ob sie nach deutschem Recht volljährig sind oder nicht.

Allerdings geht es dabei ja nicht primär um die Zahl, sondern um das, was wir hinter dem konkreten Alter vermuten. Also dass jemand unter 18 besonders schutz- und hilfebedürftig ist zum Beispiel. Das kann aber auf jemanden, der 18 oder 19 ist, genauso zutreffen.

Ulrike Bialas, Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften

Foto: privat

Minderjährige Flüchtlinge haben Vorteile gegenüber den volljährigen Schutzsuchenden. Sie können zum Beispiel nicht abgeschoben werden, bis sie 18 sind. Das heißt, sie müssen vorher keinen Asylantrag stellen und haben dementsprechend mehr Zeit, sich gut auf das Asylverfahren vorzubereiten. Sie werden in der Jugendhilfe untergebracht und nicht in überfüllten Gemeinschaftsunterkünften. Und sie bekommen Unterstützung durch Betreuerinnen und Betreuer der Jugendhilfe. Ein Problem dabei: Etwa 60 Prozent der unbegleiteten minderjährigen Schutzsuchenden haben aus verschiedensten Gründen keine Ausweispapiere bei sich. Das bedeutet: Das Alter, das bestimmt, wie es für die jungen Menschen in Deutschland weitergeht, ist nur eine Schätzung.

Alter, Identität und Verantwortung im deutschen Asylsystem

Ulrike Bialas hat an einem forensischen Institut Altersschätzungen beobachtet, bei einem Verein gearbeitet, der ehrenamtliche Vormünder an unbegleitete Minderjährige vermittelt — und sie hat für ihre Forschung am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften mehr als drei Jahre lang junge Flüchtlinge in Berlin in ihrem Alltag begleitet. Sie untersucht die umstrittene Altersfrage im Kontext der Asylsuche junger Flüchtlinge, die widersprüchlichen Bedeutungen, die der Staat und die Schutzsuchenden dem Alter geben, und die Mechanismen, durch die ein offizielles Geburtsdatum die Zukunft Geflüchteter in Deutschland wesentlich mitbestimmt.

In dieser Folge „Ach, Mensch!“ spricht Ulrike Bialas mit detektor.fm-Moderatorin Charlotte Thielmann über ihre ethnografische Feldforschung, die Situation junger Geflüchteter in Deutschland und das Buch „Forever 17″, das sie über ihre Forschung geschrieben hat. Es erscheint am 15. Dezember 2023.

Redaktion