Geschichten aus der Mathematik | Andrei Kolmogorow

Das Doppelleben in der Diktatur

Bis zu seinem Lebensende fürchtet der Mathematiker Andrei Kolmogorow die sowjetische Geheimpolizei, die ihn auf Stalins Geheiß beobachtet. Denn Kolmogorow führt ein Leben, das in der Stalin-Diktatur eigentlich nicht geduldet wird.

Immer auf der Hut: Andrei Kolmogorow

Andrei Kolmogorov kommt im Jahr 1903 im Russischen Kaiserreich zur Welt und wächst ab 1922 in der neu gegründeten Sowjetunion auf — erst unter Wladimir Lenin und ab 1924 unter dem Diktator Josef Stalin. Unter Stalin gilt es, nicht aus der Reihe zu tanzen, weder privat noch beruflich. Und zunächst scheint es auch gar nichts zu geben, was Stalin an Kolmogorow stören könnte. Im Gegenteil: Kolmogorow landet wie andere talentierte Mathematik-Studierende an der Universität Moskau in der Forschungsgruppe des angesehenen Professors Nikolai Lusin und entwickelt sich zu einem erstklassigen Mathematiker. Nach seinen ersten Veröffentlichungen ist er bereits international bekannt.

Kolmogorow hält sich schon bald nicht mehr an die Forschung, die Lusin vorgibt. Er macht sein eigenes Ding. Und dafür sucht er sich einen Ort, an dem er ungestört forschen kann — außerhalb der Universität.

Demian Nahuel Goos, Mathematiker

Foto: Chris Coe

Zusammen mit seinem Freund Pawel Alexandrow, ebenfalls Mathematiker, kauft Kolmogorow eine Datscha im Grünen, die sich schon bald als Treffpunkt für Spitzenmathematiker etabliert. Doch der Safe Space für freie Forschung gerät bald auch ins Visier der sowjetischen Geheimpolizei. Kolmogorow und Alexandrow stehen unter staatlicher Beobachtung — nicht nur wegen ihrer Arbeit. Die Geheimpolizei erpresst die beiden und zwingt sie unter anderem, öffentlich gegen Lusin auszusagen, der bei Stalin in Ungnade gefallen ist.

Stalin spielt die Mathematiker geschickt gegeneinander aus — bis es schließlich zum Eklat kommt: Auf den Gängen der Akademie der Wissenschaften verpasst Kolmogorow Lusin eine Ohrfeige. Der Vorfall dringt bis zu Stalin vor und das Schicksal des Mathematikers liegt in den Händen des Diktators.

Die Komplexität des Zufalls

So willkürlich Stalin in seinem Regime mit den Bürgerinnen und Bürgern umspringt, so sehr will Kolmogorow seiner mathematischen Forschung die Willkür austreiben. Er beschäftigt sich wesentlich mit der Wahrscheinlichkeitslehre. Aber statt zu berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Zahlenfolge auftritt, will er herausfinden, wie einfach oder komplex die Zahlenfolge ist.

Andrei Kolmogorow hat einen Weg gefunden, den Zufall zu vermessen, indem er Zeichenfolgen verschiedene Komplexitäten zuordnet. Je komplexer eine Zahl ist, also je weniger Muster sie aufweist, desto zufälliger kommt sie uns am Ende vor.

Manon Bischoff, Mathe-Redakteurin bei Spektrum der Wissenschaft

Foto: privat

Was hat die sogenannte „Kolmogorow-Komplexität“ mit Wettervorhersagen und künstlicher Intelligenz zu tun? Was passierte mit Andrei Kolmogorow, nachdem ihm die Hand ausgerutscht ist? Und warum hatte Kolmogorow bis zu seinem Tod Angst vor der sowjetischen Geheimpolizei — und blickte dennoch sehr versöhnlich auf sein Leben zurück? Darüber sprechen detektor.fm-Moderatorin Karolin Breitschädel, Spektrum der Wissenschaft-Redakteurin Manon Bischoff und Mathematiker Demian Nahuel Goos in dieser Folge von „Geschichten aus der Mathematik“.

„Geschichten aus der Mathematik“ ist ein detektor.fm-Podcast in Kooperation mit Spektrum der Wissenschaft. Die Idee für diesen Podcast hat Demian Nahuel Goos am MIP.labor entwickelt, der Ideenwerkstatt für Wissenschaftsjournalismus zu Mathematik, Informatik und Physik an der Freien Universität Berlin, ermöglicht durch die Klaus Tschira Stiftung.

Redaktion