Toter Junge am Strand: Debatte um Bildethik

„Die fortgespülte Menschlichkeit“

Das Bild eines toten Dreijährigen aus Syrien wird zum Symbol für die Flüchtlingskatastrophe in Europa. Manche Medien entscheiden sich für, andere bewusst gegen die Veröffentlichung des Bildes. Brauchen wir solche Bilder, um Katastrophen zu begreifen? Oder machen sie nur Auflage?

Der dreijährige Aylan Kurdi aus Syrien ist ertrunken. Auf der Flucht. So wie unzählige andere Flüchtlinge.

Der Junge liegt leblos an der türkischen Küste bei Bodrum, das bleiche Gesicht halb im nassen Sand. Ein türkischer Polizist trägt ihn fort. Diese Bilder verbreiten sich erst in der Türkei unter dem Hashtag #KiyiyaVuranInsanlik („Die fortgespülte Menschlichkeit“) in den sozialen Netzwerken, dann weltweit in den Medien.

Um die Veröffentlichung der Bilder entfacht sich die Debatte um die ethischen Grenzen von Berichterstattung: Welche Bilder müssen die Medien zeigen und die Menschen sehen? Welche nicht?

So argumentiert die Pro-Seite

„If these powerful images of a dead Syrian child on a beach don’t change Europe’s attitude to refugees, what will?“ http://t.co/y09zkO4x8s

— David Miliband (@DMiliband) 2. September 2015

Die Bilder zeigen eindrücklich die Realität der humanitären Katastrophe, statt die immergleich abstrakten Symbolbilder um Asylpolitik und Verteilschlüssel, finden Bewürworter der Veröffentlichung.

Der kleine Aylan Kurdi sei nicht der erste Tote, nicht das erste tote Kind vor den Grenzen der EU – und er wird nicht der letzte sein. Aber das Bild zeigt, maximal verkürzt, dafür umso eindringlicher die humanitäre Katastrophe.

Die Bilder schocken nicht, weil sie Gewalt und Blut auf geschmacklose Art zeigen: Sie schocken, weil sie eine unbequeme, hässliche Wahrheit zeigen. Es ist die Pflicht von Journalisten, darüber zu berichten. Sie schockieren, weil Europa sich auch mental von den täglichen Tragödien entfernt hat, von der Not und dem Leid des Einzelnen abgeschottet hat.

Ethisch bedenklich ist nicht, diese Bilder zu zeigen – sondern dass Kinder auf dem Mittelmeer sterben. Die Diskussion um die Flüchtlinge wird sehr abstrakt geführt, aber das menschliche Leid wird nicht gezeigt. – Martin Gommel, Fotograf

Das hält die Contra-Seite entgegen

Das sehen nicht alle so. Kritiker sehen inder Veröffentlichung solcher Bilder rote Linien überschritten – und einen Offenbarungseid bei jenen, die dafür eintreten.

Wenn euch ein Foto von einem toten Kind aufrüttelt, wo wart ihr denn in den letzten Monaten?

— Torsten Beeck (@TorstenBeeck) 3. September 2015

@wblau finde es völlig pietätlos, auch tot genießen Kinder besondere Schutzrechte, denke ich; immerhin schaltet ihr keine Werbung daneben

— Lorenz Matzat (@lorz) 3. September 2015

Medien können über das Bild und die Flüchtlingskatastrophe berichten, auch ohne das Bild selbst zu zeigen – zum Beispiel durch eine detaillierte Beschreibung. Drastische Bilder lähmen die Menschen eher, als sie zum Handeln zu zwingen. Zeigen Journalisten solche Bilder, dann generieren sie damit höchtens eine kurzlebige Aufmerksamkeit mit dem Leid und der Not der Menschen. Und machen ein Geschäft daraus: Auch die BILD-Zeitung hat das Foto gedruckt und online gleich mehrfach genutzt.

„Ich bin davon überzeugt, dass es nicht anders geht“

Journalisten haben eine Verantwortung: Sie müssen die Bilder, die sie schon selber schwer ertragen, nicht Anderen zumuten, und wägen Fragen wie diese im Idealfall sorgfältig ab. Doch zur Wahrheit gehört auch: Wer die Bilder sehen will, kann sie im digitalen Zeitalter auch ohne Journalisten finden.

Ein toter Junge am Strand – ob wir Bilder wie diese erst brauchen, um Katastrophen zu verstehen, und über den Umgang von Medien und Fotografen mit drastischen Bildern hat detektor.fm-Moderator Gregor Schenk mit Martin Gommel gesprochen. Er ist Fotograf, hat selbst schon aus Krisengebieten berichtet und ist Herausgeber des Fotomagazins Kwerfeldein.

Unbequeme Bilder gehören dazu. Der Junge am Strand, das ist ja nicht heute zum ersten Mal passiert, sondern täglich. Jetzt haben wir das vor Augen.Martin Gommel 

Redaktion: Sandro Schroeder

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