Forschungsquartett | NS-Verfolgung und Musikgeschichte

„Wir müssen die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts rekonstruieren“

Viele Werke und Biografien von Musikern, die während des NS-Regimes verfolgt und ermordet wurden, sind noch nicht hinreichend erforscht. Ein Langzeitprojekt will das jetzt ändern und damit auch ein Stück Musikgeschichte korrigieren.

Musik im Nationalsozialismus

Musik im Nationalsozialismus war nicht nur Unterhaltung, sondern ein politisches Instrument. Was gespielt wurde, bestimmte die NS-Regierung, die die Musik zum Beispiel für Propaganda und Machtdemonstration nutzte. Erlaubt war nur das, was in das Weltbild der Nationalsozialisten passte, alles andere galt als „entartet“ und wurde verboten. Viele Musikerinnen und Komponisten wurden verfolgt, deportiert und ermordet — einige konnten im Exil überleben. Die Folge: der Verlust zahlreicher musikalischer Stimmen und damit auch der Verlust musikalischer Vielfalt.

Es ist immer klarer geworden, dass es in den 1920er- bis frühen 1930er-Jahren in ganz Europa sehr viele Musikerinnen und Musiker, Komponistinnen und Komponisten gab, die wir überhaupt nicht kennen.

Friedrich Geiger, Leiter des Forschungsprojekts "NS-Verfolgung und Musikgeschichte"

Foto: Jann Wilken

Musikgeschichtsschreibung revidieren

Die Verfolgung und Zwangsmigration der Musikerinnen und Musiker hatte massiven Einfluss auf das Kulturgut Musik und das Schaffen der Betroffenen. Die Exilmusik-Forschung begann Ende der 1970er-Jahre, doch in welchem Ausmaß die musikalische Praxis in der NS-Zeit zerstört wurde, ist noch nicht ausreichend erforscht. Hier setzen Musikwissenschaftler Prof. Friedrich Geiger und sein Forschungsteam mit dem Langzeitprojekt „NS-Verfolgung und Musikgeschichte. Revisionen aus biographischer und geographischer Perspektive“ an. Die bisherige Forschung habe gezeigt, dass die Erzählungen von der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts nicht in ihrer ursprünglichen Form beibehalten werden können, so Geiger. Deshalb recherchieren er und sein Team Biografien verfolgter, ermordeter und geflüchteter Musikerinnen und Musiker — um die Musikgeschichte zu rekonstruieren und die Musikgeschichtsschreibung zu revidieren und zu vervollständigen.

Es ist insgesamt einfach ein Puzzlespiel und man muss sich diese Biografien aus vielen, vielen kleinen Einzelteilen zusammensetzen.

Friedrich Geiger

In zum Teil noch unberührten Quellen sucht das Team nach biografischen und geografischen Informationen. Die Daten werden in das Online-Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (LexM) eingepflegt. Entstehen soll eine digitale Karte, in der unter anderem nachvollziehbar wird, wie sich musikalisches Wissen im Exil verbreitet hat. Gleichzeitig sollen individuelle Biografien sichtbar gemacht und vergessene musikalische Werke der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und damit endlich wahrgenommen werden.

Umgesetzt wird das Projekt von der Akademie der Wissenschaften in Hamburg in Kooperation mit der Universität Hamburg und der Hochschule für Musik und Theater München. Prof. Friedrich Geiger,  Leiter des Musikwissenschaftlichen Instituts an der Hochschule für Musik und Theater München, leitet das Forschungsprojekt, das über 18 Jahre laufen soll. detektor.fm-Redakteurin Charlotte Detig hat für das „Forschungsquartett“ mit ihm über die aufwendige Recherche und die Lücken, die das Projekt füllen will, gesprochen.

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