Die Nazis haben sehr viel getötet. Aber Musik ist nicht zu töten. Das ist ein Zitat von Anita Lasker-Wallfisch. Sie hat den Holocaust überlebt, auch weil sie Cello spielen konnte, sagt sie. Als Teil der Lagerkapelle in Auschwitz-Birkenau, die auch oft als Mädchenorchester von Auschwitz bezeichnet wurde, wurde sie dazu genötigt, Musik zu machen. Am Lagereingang zum Beispiel oder für die Lagerkommandanten. Nach der Befreiung hat sie weitergespielt und war Gründungsmitglied des English Chamber Orchestra. Ihre Lebensgeschichte zeigt, wie sehr Musik einerseits Hoffnung und Überlebenschance sein konnte und Musik gleichzeitig von den Nationalsozialisten instrumentalisiert wurde. Musik wurde für Terror missbraucht und genutzt, um Macht zu demonstrieren. Erlaubt war aber eben nur solche Musik, die sich aus Sicht der Nazis geeignet hat und nur von Komponistinnen und Musikern, die dem NS-Weltbild entsprochen haben. Alle anderen wurden verfolgt, deportiert, ermordet. Manchen ist die Flucht gelungen und sie haben im Exil überlebt. Viel von ihrem Schaffen ist verloren gegangen, wurde zerstört oder ist bis heute noch eher unbeachtet. Wie sich das ändern kann und was das für die Musikgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts bedeutet, das ist das Thema in dieser Folge vom Forschungsquartett. Ich bin Caroline Breitschädel, schön, dass ihr zuhört. Die Verfolgung von MusikerInnen durch das NS-Regime hat musikalische Biografien, Werke und Musikpraktiken sowohl zerstört als auch stark beeinflusst. Lange Zeit wurde nicht so genau darauf geschaut, wie sich die NS-Herrschaft auf die Musikgeschichte ausgewirkt hat. Erst in den 1970er Jahren wurde der Nationalsozialismus zum Thema in der Musikhistoriografie. Seit Anfang dieses Jahres, also Anfang 2025, läuft ein neues Forschungsprojekt: NS-Verfolgung und Musikgeschichte – Revisionen aus biografischer und geografischer Perspektive, so heißt das Projekt. Es ist ein Langzeitprojekt der Akademie der Wissenschaften in Hamburg in Kooperation mit der Universität Hamburg und der Hochschule für Musik und Theater München. Angesetzt ist es auf 18 Jahre. Leiter des Projekts ist Friedrich Geiger, Professor für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater München. Er forscht bereits seit 30 Jahren zu Musik in Diktaturen und im Exil. Und meiner Kollegin Charlotte Detig hat erzählt, wann ihm die Dimensionen und die Bedeutung seines Forschungsthemas nochmal so richtig bewusst geworden sind. Wir selbst haben 2005 begonnen mit einem Online-Lexikon-Projekt. Das ist das Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit. Das ist online zugänglich und versammelt eben Biografien von Musikerinnen und Musikern, die in der NS-Zeit verfolgt worden sind. Und je länger diese Forschungen angedauert haben, desto mehr ist doch irgendwie klar geworden, dass wir also eigentlich unsere Erzählungen von der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, so wie sie waren, nicht wirklich aufrechterhalten können. Denn es ist immer klarer geworden, dass es eben in den 1920er bis frühen 30er Jahren in ganz Europa sehr viele Musiker und Musikerinnen gab, Komponistinnen und Komponisten, die wir überhaupt nicht kennen, wo wir einfach aufgrund der Tatsache, dass sie verfolgt worden sind, dass sie zum Teil ermordet worden sind, dass sie sich weltweit im Exil verteilt haben, keine genaue Vorstellung haben, was die eigentlich vor 1933 gemacht haben. Also kurzum, wir haben einfach gesehen, dass das Thema unglaublich große Dimensionen hat. Wir haben in unserem Lexikon jetzt 5.500 Namen und sind also bei Weitem sozusagen hier noch nicht fertig. Und wenn man das sozusagen alles überschlägt, dann stellt man eben fest, dass die bisherigen Erzählungen von der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, wo man eben sagt, ja, es gab da in den 1920er Jahren so interessante Ansätze, dann gab es Diktaturen in Italien, der Sowjetunion und Nazi-Deutschland, das war dann so eine Unterbrechung. Und dann ging es aber nach 1945 eigentlich weiter. Das wird der Sache nicht gerecht, sondern wir müssen eben viel genauer hinsehen, was gab es eigentlich in den 1920er Jahren, müssen das rekonstruieren. Dann müssen wir eben gucken, was ist mit diesen Leuten passiert, die diese Ansätze verkörpert haben. Musik ist ja immer etwas, was die Menschen braucht, die sie ausüben. Das heißt, wenn wir die Biografien verfolgen und recherchieren und aufspüren, dann stellen wir eben fest, dass manche dieser Menschen umgebracht worden sind, viele ins Exil gegangen sind und in ganz anderen Ländern entweder weitergemacht haben oder aber auch ganz andere Berufe unter Umständen ergriffen haben. Und wir stellen fest, dass es dann eben bei denen, die weitergemacht haben, an ihren Zufluchtsorten im Exil oft auch Interaktionen mit der Musikszene vor Ort gab, die dann wiederum auch zum Teil auf die Musikkultur vor Ort eingewirkt haben, aber natürlich auch Rückwirkungen hatten auf das Musikschaffen der Flüchtlinge. Also ganz interessante Transfers und Interaktionen, die wir auch versuchen zu recherchieren. Insgesamt stellt man eben fest, dass auf diese Weise eigentlich das ganze 20. Jahrhundert noch mal neu in den Fokus genommen werden muss, um wirklich eine Vorstellung davon zu kriegen, welche Verheerungen die Verfolgung durch das Naziregime in der Musikgeschichte, in der europäischen Musikgeschichte angerichtet hat. Der Projekttitel lautet ja NS-Verfolgung und Musikgeschichte Revision aus biografischer und geografischer Perspektive. Die biografische haben Sie gerade schon angesprochen. Da kann man sich vielleicht auch schon was darunter vorstellen. Allerdings können Sie da vielleicht ein bisschen ausführen, wie Sie da vorgehen? Also ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass man oft gar nicht viel mehr als einen Namen oder ein Geburtsdatum zum Beispiel hat. Also wo suchen Sie da nach Spuren? Ja, es ist genauso, wie Sie sagen. Oft hat man auch wirklich nur Namen und Geburtsdatum. Sie werden das auch sehen, wenn Sie in unser Lexikon reingucken. Wir haben, ich habe das vorhin gesagt, 5.500 Einträge, aber sehr viele dieser Einträge bestehen eben tatsächlich nur aus Namen, Geburtsdatum, möglicherweise auch einem Sterbedatum, wenn man das hat. Und erst rund 1.000 dieser Eintragungen sind bisher ausgearbeitet worden zu ausführlichen Biografien. Das ist eben etwas, wofür wir diese Zeit auch brauchen, denn das ist, wie Sie schon andeuten, sehr aufwendig. Also manchmal hat man eben den Namen nur aufgrund zum Beispiel einer Deportationsliste in einem Vernichtungslager und weiß aber, dass es sich dabei um einen Musiker oder eine Musikerin gehandelt hat. Und dann muss man eben diese ganze Biografie recherchieren. Also man versucht zum Beispiel herauszufinden, in welchem Konservatorium, in welcher Musikhochschule waren die. Dann guckt man, ob es da Akten gibt zu der Unterrichtszeit, zum Studium. Man sucht bei Einwohnermeldeämtern an den jeweiligen Geburts- und Wohnorten, ob sich da noch irgendetwas erhalten hat, woraus man Biografisches rekonstruieren kann. Dann gibt es aber auch sehr ungewöhnliche Quellenarten wie zum Beispiel die sogenannten Entschädigungsakten. Das ist eine Gruppe von Akten, die für die Bundesrepublik Deutschland einschlägig sind. Da gab es die Möglichkeit für Verfolgte des NS-Regimes nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, Entschädigungen zu beantragen für die verfolgungsbedingten Beeinträchtigungen, die diese Personen erlitten hatten. Und diese Verfahren waren aber zum Teil sehr aufwendig und es musste eben ganz genau nachgewiesen werden, worin eigentlich der Schaden bestand. Das heißt, wenn ich zum Beispiel reklamieren wollte, dass meine Karriere als Musikerin oder als Musiker unterbrochen worden ist, dann musste ganz genau dargelegt werden, was man da eigentlich vorher gemacht hat. War man in einem Provinzorchester nur oder war man in einem bekannteren, prominenteren Orchester, wo man natürlich dann auch besser verdient hat und so weiter. Und dieser Druck, sozusagen im Zuge dieser Entschädigungsverfahren sehr genau nachzuweisen, wie die eigene Berufslaufbahn ausgesehen hat, das war für die Betroffenen furchtbar schwierig, weil die ja zum Teil aufgrund der Flucht gar keine Unterlagen mehr hatten, mit denen sie das nachweisen konnten. Es ist aber natürlich, ohne dass das zynisch klingen soll, aus der Sicht von Historikerinnen und Historikern sind diese Quellen natürlich unglaublich aufschlussreich, weil die Leute eben dann sehr detailliert beschreiben und belegen, was sie gemacht haben. Das heißt, diese Akten sind für uns auch sehr wichtig. Aber eben ansonsten auch jede Art von Beiträgen in alten Musikzeitschriften, von Konzertankündigungen. Manchmal gibt es auch den ganz klischeehaften Dachbodenfund, dass also Nachlässe sich irgendwo in Dachböden oder Kellerabteilen erhalten haben, aus denen wir dann sozusagen Rückschlüsse ziehen können. Viele Nachfahren von Musikerinnen und Musikern melden sich auch bei uns, also es kommen auf allen möglichen Wegen Dinge zusammen. Aber es ist insgesamt einfach ein Puzzlespiel und man muss sich diese Biografien aus vielen, vielen kleinen Einzelteilen zusammensetzen. Und was hat es dann mit der geografischen Perspektive auf sich? Die geografische Perspektive interessiert uns eben besonders, weil man eben ja sagen könnte, okay, NS-Verfolgung, Musikgeschichte, das betrifft wahrscheinlich die deutsche Musikgeschichte, vielleicht noch die österreichische. Aber so ist es eben nicht, sondern natürlich nahm das ganze Unglück von Deutschland aus seinen Lauf. Aber wir wissen ja, dass das sozusagen zunächst annektierte Gebiete dazukamen: Österreich, dann das sogenannte Protektorat Böhmen und Mähren, also die ehemalige Tschechoslowakei. Und dann begann ja sozusagen der irrsinnige Eroberungskrieg der Nazis, der also soweit führte, dass 1942, im November 1942, als das auf dem Höhepunkt war, nahezu fast ganz Europa eigentlich unter der Kontrolle der Nazis war. Also sei es direkt durch Besatzungen, sei es indirekt durch Bündnisse. Also der Einfluss des NS-Regimes war nahezu europaweit 1942. Und überall dort, natürlich wo die Nazis Einfluss hatten, gab es diese Verfolgungsstrukturen. Das heißt, es ist schon mal sozusagen dadurch die gesamte europäische Musikgeschichte im Grunde betroffen gewesen. Und dann kommt noch dazu, dass ja eben das Exil der Musikerinnen und Musiker ein globales Phänomen war. Also wenn man sich das auf einer Karte anguckt, dann sieht man eben, dass eigentlich wirklich nahezu der gesamte Globus, alle Kontinente, irgendwie Zufluchtsorte geboten haben für Musiker und Musikerinnen. Und wir haben jetzt die Möglichkeit, in diesem Projekt sehr stark mit Geovisualisierung zu arbeiten. Wir machen das in Zusammenarbeit mit der HafenCity Universität Hamburg. Dort gibt es das sogenannte Geolab, also ein Institut für Geovisualisierung unter Leitung meines Kollegen Jochen Schieve. Und die beschäftigen sich ganz intensiv damit, wie kann man geografische, historische, raumzeitliche Sachverhalte gut sichtbar machen, sodass man versteht, was da eigentlich passiert ist. Wir müssen uns vorstellen, so ein Online-Lexikon ist ja im Prinzip auch eine riesige Datenbank. Also da sind Geburtsorte, Fluchtorte, Wirkungsorte, Sterbeorte also alle möglichen Geodaten, die sich visualisieren lassen. Und wir verwenden diese Geovisualisierung eigentlich auf zwei Ebenen. Zum einen, um Sachverhalte darzustellen. Also wenn ich ein Beispiel mache, zum Beispiel, wo sind Pianistinnen und Pianisten hingegangen ins Exil? Gibt es da sozusagen bevorzugte Regionen? Dann kann man sich das sozusagen im Kartenbild darstellen lassen. Das ist unser Ziel. Und umgekehrt ist es aber auch ein wahnsinnig hilfreiches analytisches Instrument. Also für uns auch, um auf bestimmte Fragestellungen überhaupt zu kommen. Also wenn man sich diese nackten Daten, wenn man die einfach aufgelistet sieht, gar nicht wirklich überblicken kann. Wenn man die in so einer geovisualisierten Form darstellt, sieht man eben plötzlich, dass bestimmte Flüchtlingsströme in bestimmten Zeiten vor allem dahin gegangen sind, dass manche Regionen überhaupt keine Rolle gespielt haben und so weiter. Also das ist für uns ein ganz wichtiges Tool, um diese ganzen Phänomene auch zu analysieren einerseits und darzustellen andererseits, sodass das also auch für eine breitere Öffentlichkeit gut anschaulich wird, im wahrsten Sinne des Wortes. Das heißt, durch so eine Art digitale Kartografie könnte man dann auch gucken, welche MusikerInnen zum Beispiel am selben Ort gelebt haben und sich möglicherweise beeinflusst haben, richtig? Ja, ganz genau. Das wäre zum Beispiel so eine klassische Fragestellung, die uns interessiert. Also Sie können ja Fragestellungen von allen möglichen Seiten her planen. Und jetzt, so wie Sie es gerade formuliert haben, wäre das zum Beispiel die Frage nach einem ganz bestimmten Exilort. Also nehmen wir mal Amsterdam in der bestimmten Zeit vor der Besatzung, die dann ja leider sozusagen Amsterdam auch getroffen hat. Aber davor war das eben durchaus ein attraktiver Fluchtort, weil es interessante Orchester gab, weil es viele Beschäftigungen für Musiker gab. Und dann kann man eben gucken, wer war da eigentlich alles in der bestimmten Zeit und wo sind die dann auch nach der Besatzung hingegangen. Aber das sind alles so Fragen: Wo kamen Leute her? Wo haben sie sich getroffen? Welche Verbindungen haben sich da möglicherweise ergeben und wo sind sie dann hingegangen? Und wo ist auch sozusagen musikalisches Wissen, bestimmte musikalische Traditionen, Interpretationstraditionen, Unterrichtstraditionen, bestimmte Konzepte, wo sind die dann eigentlich hingewandert? Also ich mache mal noch ein Beispiel: Ein Komponist, der relativ bekannt ist für diejenigen, die sich mit zeitgenössischer Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigen in Deutschland, wäre der Name Maurizio Kagel. Maurizio Kagel war ein argentinischer Komponist, der einen jüdischen Hintergrund hatte und der dann nach dem Zweiten Weltkrieg in den 1950er Jahren als Austauschstudent, also als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes nach Köln gekommen ist, wo ein Zentrum der neuen Musik war damals mit elektronischem Studio und so weiter. Und Kagel hat dort also sehr schnell Aufmerksamkeit erzielt und ist einer der prominentesten Komponisten geworden und war aber immer auch zugleich ein bisschen ein Außenseiter in einem durchaus auch selbstgewählten Sinne und jemand, der sich auch dann sehr kritisch so gegenüber der deutschen Avantgarde zum Teil verhalten hat. Und die Intentionen von Kagel kann man eigentlich wirklich erst vollständig verstehen, wenn man sich anguckt, dass er sozialisiert worden ist in Buenos Aires in einer Gruppe von lauter deutschen und österreichischen Exilmusikerinnen und Exilmusikern. Er hatte insofern einen ganz kritischen Blick sozusagen auf die deutsche Musikgeschichte, gleichzeitig aber auch eine große Faszination für gerade für die Avantgarde, die sozusagen aus dieser Tradition kam. Also das war eine ganz interessante ambivalente Einstellung, die man ohne diesen Exilhintergrund nicht von Kagel selbst, aber sozusagen von seinem Umfeld in Buenos Aires gar nicht richtig einordnen kann. Neben dem, was Sie jetzt gerade alles erzählt haben, habe ich gelesen, dass Sie auch sogenannte Research Concerts planen. Was genau kann ich mir darunter vorstellen? Also unsere Research Concerts, die sollen im Prinzip diese Fragestellungen, die wir dort in dem Projekt verfolgen, hörbar machen. Das ist die Idee. Das kann auf ganz unterschiedliche Weise geschehen. Also es werden Konzerte stattfinden, wo wir einfach völlig unbekanntes Repertoire zu Gehör bringen werden. Es ist ja Gott sei Dank so, dass wir, dadurch dass die Hochschule für Musik und Theater, an der ich unterrichte, mit im Boot ist, sehr viele interessierte Studierende, aber auch Kolleginnen und Kollegen haben, die fantastische Musikerinnen und Musiker sind und die erfreulicherweise ein großes Interesse auch an dem Projekt haben und bereit sind, da mitzumachen. Das heißt, wir werden auf hohem Niveau Konzerte veranstalten können, wo wir einfach Repertoire, das niemand kennt, von solchen verfolgten Komponisten und Komponistinnen zu Gehör bringen können. Und das eben in einer moderierten Form, sodass auch die interessierte Öffentlichkeit, die sich da einfindet, ein bisschen was zu den Hintergründen dieser Musik erfährt. Dann wird das Konzert von Cotton Research, aber auch zu Fragestellungen der Interpretation sein. Das ist eben eine Frage, die uns auch sehr interessiert. Also wie verändert sich so etwas schwer Messbares wie eine Interpretationstradition? Also wie führe ich ein bestimmtes Stück auf? Wie spiele ich einen bestimmten Komponisten auf dem Klavier? Da gibt es ja immer bestimmte Schulen und Interpretationstraditionen. Und wie verändert sich so etwas, wenn man zum Beispiel ins Exil geht und im völlig anderen Land plötzlich andere Pianisten und Pianistinnen hört oder so. Und so etwas kann man natürlich einfach viel besser als in einem geschriebenen Aufsatz live in einer Art Konzertdarbietung präsentieren und sich damit beschäftigen. Also das sollen einfach Konzerte sein, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind, für interessierte Menschen, die da kommen wollen. Und in denen aber gleichzeitig sozusagen irgendeine wissenschaftliche Fragestellung verfolgt wird. Wir sind ja mit den Research Concerts schon eigentlich im Heute angekommen. Ich würde gerne zum Abschluss auch nochmal einen Bogen in die Gegenwart machen. Denn auch heute müssen Menschen flüchten, werden verfolgt und auch da geht ja schlimmstenfalls immaterielles Kulturerbe verloren. Was kann man denn aus Ihrer historischen Forschung für die Gegenwart oder Zukunft vielleicht mitnehmen? Ja, Sie haben völlig recht. Das ist also ein ganz aktuelles Thema. Wir brauchen bloß sozusagen in die Ukraine oder nach Russland zu gucken. Also unter den zahllosen Flüchtlingen, die entweder aus der Ukraine fliehen wegen des russischen Angriffskrieges oder die auch aus Russland fliehen, weil sie Gegnerinnen und Gegner des Putin-Regimes sind, sind ja auch sehr viele Musiker und Musikerinnen. Die haben teilweise ganz ähnliche Probleme wie die Menschen, mit denen wir uns beschäftigen. Und es stellt sich zum Beispiel auch die Frage für mich, ist immer dieses Thema: Wie geht man mit der Musik aus solchen Regimen um? Sollte man zum Beispiel russische Musik canceln oder so etwas? Also können wir noch Tchaikovsky spielen und so weiter? Und nun ist es einerseits vollkommen verständlich, dass man nicht Musik spielen will aus einem Regime, das also eindeutig sozusagen als Diktatur mittlerweile gewertet werden muss, weil man Sorge hat, man würde damit sozusagen das Regime unterstützen oder würde sozusagen seiner Repräsentation dienen. Auf der anderen Seite ist es natürlich immer auch wieder so, dass man gerade durch solches Repertoire natürlich auch denjenigen, die spezialisiert sind auf bestimmtes Repertoire, die Möglichkeit gibt, aufzutreten und auf diese Weise sozusagen auch ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Also wenn man sich zum Beispiel anguckt, dass viele von den damals während der NS-Zeit geflüchteten Sängerinnen und Sänger, die waren natürlich unglaublich gefragt, wenn es um deutsches Repertoire im Ausland ging, weil die eben die Sprache konnten und die Lieder alle in der Originalsprache singen konnten oder die Opernpartien. Und für die war das ein unglaublich wichtiges Einkommensfeld. Also solche Aspekte irgendwie so ein bisschen mit im Blick zu behalten, das kann durchaus auch in einer Situation wie heute, wo wir leider wieder ganz ähnliche Phänomene zu bewältigen haben, sehr hilfreich sein. Professor Friedrich Geiger von der Hochschule für Musik und Theater München leitet das Forschungsprojekt NS-Verfolgung und Musikgeschichte – Revision aus biografischer und geografischer Perspektive, das Anfang des Jahres angelaufen ist und 18 Jahre lang laufen soll. Über das Langzeitvorhaben der Akademie der Wissenschaften in Hamburg in Kooperation mit der Universität Hamburg und der Hochschule für Musik und Theater München hat meine Kollegin Charlotte Detig mit ihm gesprochen. Vielen Dank, Charlotte, für Recherche und Skript und vielen Dank, Professor Geiger, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Ich habe echt was gelernt über Musikgeschichtsschreibung und darüber, auf welchen Ebenen sich Kriege und Flucht ganz konkret auf unsere Musikkultur auswirken. Das sind nämlich ganz schön viele. Deshalb forschen Doktoranden oder Habilitandinnen im Forschungsteam um Professor Geiger in verschiedenen Einzelprojekten konkret, zum Beispiel zum Exil von MusikerInnen in Italien, zu Wagner-Rezeptionen im Exil und zu deutschsprachiger Musikpublizistik zwischen den Weltkriegen. Denn auch in den 1920er Jahren haben sich Menschen schon gefragt, wie man neues Publikum für klassische Musik gewinnen könnte. Heute gibt es da natürlich ganz andere Möglichkeiten als damals. Also mich hat zum Beispiel die Ankündigung der Research Concerts total neugierig gemacht. Die würden mich auf jeden Fall in einen Konzertsaal locken. Ja, wie ist es bei euch? Hättet ihr Lust auf ein Research Concert, wo Musik von bisher kaum beachteten ExilmusikerInnen gespielt wird? Das könnt ihr uns ja gern mal zum Beispiel in den Spotify-Kommentaren verraten. Oder vielleicht interessiert ihr euch ja auch dafür, wie künstliche Intelligenz in der klassischen Musik ankommt. Dazu haben wir nämlich Ende August auch eine Forschungsquartett-Folge gemacht, die ich euch ebenfalls ins Herz legen möchte. Den Link dazu findet ihr auch nochmal in den Shownotes. Und nächste Woche gibt es dann schon wieder eine neue Folge mit Neuigkeiten aus Wissenschaft und Forschung. Folgt also gerne dem Forschungsquartett auf der von euch auserwählten Podcast-Plattform, dann verpasst ihr nämlich nichts. Mein Name ist Caroline Breitschädel. Vielen Dank euch fürs Zuhören und bis nächsten Donnerstag, wenn ihr mögt. Das Forschungsquartett: Wissenschaft bei detektor.fm.