Einen Entwurf für eine Charta zu digitalen Grundrechten haben wir jetzt auch. Der beinhaltet 23 Artikel und soll Grundrechte der Menschen in Europa im digitalen Zeitalter verbessern. Denn die Initiatoren sind davon überzeugt, dass die europäische Charta der Grundrechte aus dem Jahr 2000 nicht mehr ausreicht. So lautet beispielsweise der Wortlaut des Artikels 1(1) der Grundrechte:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.
Die Initiatoren der Charta digitaler Grundrechte verlangen, das anzupassen. Und das klingt im Entwurf dann so:
Die Würde des Menschen ist auch im digitalen Zeitalter unantastbar. Sie muss Ziel und Zweck aller technischen Entwicklung sein und begrenzt deren Einsatz.
27 prominente Erstunterzeichner
In 14 Monaten haben bekannte Gesichter wie Johannes Caspar (Hamburgischer Beauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit), Sascha Lobo (Journalist und Autor) und Michael Göring (Vorstand der ZEIT-Stiftung) nach eigenen Angaben intensiv an der Charta gearbeitet. Es geht um Würde, Freiheit und Gleichheit in der digitalen Welt. Aber auch um Transparenz im Internet. Selbst die Grenzen von künstlicher Intelligenz werden in der Charta erwähnt:
Ethisch-normative Entscheidungen können nur von Menschen getroffen werden. – 8 (1)
Das Projekt wurde angeregt durch die Zeit-Stiftung. Zahlreiche Journalisten, Politiker und Wissenschaftler haben daran mitgearbeitet oder unterstützen das Projekt. Doch nicht alle sind davon überzeugt.
Art. 5 Digitalcharta schützt nicht die Meinungsfreiheit, sondern zerstört sie. Ein Frontalangriff aufs Grundgesetz. https://t.co/hXlwkpjhCp
— Udo Vetter (@udovetter) 30. November 2016
Eine neue Charta der Grundrechte notwendig?
EU-Digitalkommissar Günther Oettinger – der zu diesem Thema keine Interviews gibt, wie detektor.fm heute erfuhr – betonte vor einem Jahr in einem Interview, er sehe keinen Bedarf für eine Erneuerung. Und auch zahlreiche andere Experten sprechen sich gegen das Projekt aus.
Es sind sehr viele handwerkliche Fehler drin, die im Endeffekt das Gegenteil dessen bewirken würden, wenn es denn in der Form als Gesetz in Kraft treten würde. – Michael Seemann, Autor des Buches „Das Neue Spiel – Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust“
Als Beispiel bringt Seemann Artikel 5 an, der sich für eine kontrollierte Meinungsfreiheit im digitalen Raum ausspricht. Es soll zum Beispiel „digitale Hetze“ verhindert werden. Solche Begrifflichkeiten sind aber juristisch nicht definiert. Außerdem würde es laut Seemann auch bedeuten, dass eine Vorzensur stattfinden muss, wenn man von „verhindern“ spricht.
„Da wird eine Relevanz vorgeheuchelt, die das absolut nicht hat“
Viele der angesprochenen Bereiche sind bereits gesetzlich verankert. Zum Beispiel wird ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Artikel 12) gefordert. Bereits 1983 wurde ein solches Gesetz verabschiedet. Auch ein „Grundrecht auf die Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ gibt es in Deutschland bereits seit 2008.
Die Initiatoren wollen die Charta am 05.12.16 dem Europäischen Parlament in Brüssel übergeben. In erster Linie soll sie eine Debatte anstoßen. Klingt gut, kann aber auch schaden, wie Michael Seemann betont:
Diese Debatte wird bereits geführt! Wenn man aber mit so einem unausgegorenen Entwurf in diese Debatte grätscht, die bereits wesentlich differenzierter und detallierter geführt wird, dann tut man dieser Debatte keinen Gefallen!
Warum er die Charta für „unausgegorenen Quatsch“ hält, erklärt Michael Seemann im Gespräch mit detektor.fm-Moderator Alexander Hertel.