In gut zwei Monaten ist Bundestagswahl. Der Wahlkampf ist in vollem Gange und aktuell deutet alles auf eine Wiederwahl der schwarz-gelben Regierung. So weit, so unspannend.
Doch im Wahlkampf 2013 scheint keiner die Schwäche des anderen nutzen können – vielmehr übertreffen sich die Parteien in Unzulänglichkeiten, wenn es um die Wahrung der Grundrechte gegenüber Geheimdiensten geht.
Kaum ein Tag vergeht, ohne dass ein neues Detail herauskommt. Die Empörung wächst – die Resignation auch.
Was genau ist hier eigentlich der Skandal? Dass ein Geheimdienst mehr tut, als er darf? Oder dass Politiker in Deutschland nicht das tun, wofür sie die Bürger gewählt haben? Ein Kommentar von Marcus Engert.
Ungekürzt: Der Kommentar in der Langfassung
Liebe jetzige und frühere Regierung, liebe Abgeordnete im Bundestag.
Ich bin eigentlich nicht enttäuscht. Ich hatte irgendwie nie so richtig geglaubt, dass ihr dem großen amerikanischen Bruder die Stirn bieten könnt. Ich weiß, ich habe Grundrechte – ich weiß aber auch, es gibt Realitäten. Diplomatische, politische, inoffizielle. Ich weiß, wie einfach das Speichern von Daten inzwischen ist. Mich überrascht es nicht, dass Sicherheitsbehörden nach dem Muster „Was getan werden kann, wird auch getan“ handeln.
Sich empören fällt dieser Tage leicht. Stasi-Vergleiche, eine schweigende Kanzlerin, ein Innenminister, der so wirkt, als habe man ihn nachts halb drei aus dem Schlaf gerüttelt und zu Statements gezwungen. Der Applaus, mindestens der eines Netz-Publikums, ist einem sicher. Aber hinter diesem Zynismus und den Scherzen stelle ich mir schon Fragen.
Habt ihr mich verraten? Meine Bürgerrechte? Habt ihr das Mandat, das ich euch gegeben habe, missbraucht? Habt ihr euren Amtseid gebrochen? Habt ihr Kapitulationserklärungen abgegeben? Vielleicht.
Kurz vorm Nichtwähler?
Aber wisst ihr was? Es empört mich nicht mehr. Es ist mir fast egal – und das besorgt mich viel mehr. Es ist nicht so, dass ich von einem eurer Wahlprogramme in den letzten Jahren umfassend überzeugt gewesen wäre. Und als Journalist, so habe ich es mal gelernt, steht man ja ohnehin keiner Partei nahe. Aber ich bin Demokrat und politisch interessiert. Ich weiß, wie wichtig das Kreuz ist, weil sonst weltfremde oder menschenfeindliche Irre die Mandate bekommen.
Aber jetzt mal im Ernst: In den letzten Monaten habt ihr es geschafft. Ich bin kurz vorm Nichtwähler. Sagt mir einen Grund, warum ich auch nur einem von euch für vier Jahre die Macht übertragen soll!
Einer Union? Deren Innenminister den Bürgern sagt, sie sollen Aufgaben, die sie zurecht vom Staat einfordern, besser selbst machen? Deren Kanzleramtsminister für die Geheimdienste zuständig ist – und im größten Geheimdienstskandal der letzten Jahrzehnte nichts sagt? Einer Kanzlerin, die ohnehin immer nix sagt?
Oder einer liberalen Partei? Deren Außenminister nicht zu hören ist – und die in der Autobiografie eines Ex-Innenministers aus den eigenen Reihen schon vergangenes Jahr nachlesen konnte, dass die NSA da was beängstigendes aufbaut?
Oder einer SPD? Die keineswegs vorbildlich offen erklärt hat, was Rot-Grün 2001 nach „nine-eleven“ von der Arbeit der amerikanischen Geheimdienste wusste oder billigte – und vorsichtshalber einen Untersuchungsausschuss erst nach der Wahl will? Und die zuließ, dass eine geheime Zusatzvereinbarung zum G10-Gesetz den Amerikanern weiterhin die totale Überwachung erlaubt – wenn die es denn nur mit dem BND zusammen machen?
Oder einer Linken, die – sorry, ich hasse den Stasi-Vergleich, aber so ist es eben nunmal – sich bis heute für viele nicht überzeugend vom totalitären Überwachungsstaat DDR distanziert? Und unverbesserlich dogmatischen und ideologischen Geistern eine politische Heimat bietet?
Sind die Grünen womöglich besser? Im Interviews geben vielleicht. Leider zeigt die Statistik: Sobald Grün in Regierungsverantwortung ist, dreht sich der Wind. Vier von neun verfassungswidrigen Überwachungsgesetzen haben die Grünen zugestimmt. Mehr noch als die FDP. Nicht wenig von dem, was der BND heute ganz legal mit unbescholtenen Bürgern tun darf, verdankt er auch den Grünen.
Lügen oder Versagen?
Liebe Regierung, liebe Abgeordnete. Nun werdet ihr sagen, das kann man nicht alles in einen Topf werfen. Aber wisst ihr was? Das kann ich doch! Denn nur, weil ihr euch hinter der Schutzbehauptung, politische Zusammenhänge seien viel zu komplex für solche einfachen Vorwürfe, zurückzieht, sind die Vorwürfe nicht aus der Welt.
Es gibt hier nur zwei Möglichkeiten. Ihr empört euch, obwohl ihr es besser wisst und informiert wart. Dann lügt ihr mich an. Oder ihr empört euch, weil ihr über Jahre gar nix wusstet. Dann habt ihr versagt und die Macht zur Volksvertretung nicht verdient.
Ich biete euch einen Deal an: Wer von euch mir eine – gern auch kurze, ich weiß, ihr habt wenig Zeit – wer von euch mir eine Antwort schickt, die frei von Phrasen ist, und das Versagen eurer Partei erklärt, den werde ich wählen. Knapp zwei Monate habt ihr noch.