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Absolute Gegenwart: Die Vorträge zum Nachhören

Wir leben in einer paradoxen Zeit

Gleichgültigkeit und Zeitlosigkeit, Beschleunigung und Stillstand, Rastlosigkeit und Erschöpfung: Vokabeln, mit denen unsere Zeit, unsere Gegenwart immer wieder beschrieben werden. Die Reihe „Absolute Gegenwart“ im Leipziger „IfZ“ und dem „about blank“ Berlin wollte das genauer untersuchen. Sie analysierte gesellschaftliche Symptome in Politik, Arbeit, psychischer Gesundheit, Popkultur und Gegenwartskunst. Was davon ist paradox? Was wiederum ist eigentlich ziemlich schlüssig? Und wie gehen wir als Gemeinschaft damit um? Wir senden im Juli und August einige der Vorträge nochmals – und das in aller Ruhe. Los geht’s mit Mark Fisher.

Es ist ein Symptom unserer Zeit: Die Welt wird kleiner, enger, schneller. Das Produkt der Wahl ist zwei Klicks entfernt. Die fremde Stadt Billigflieger sei Dank in wenigen Stunden erreicht. Und die Arbeit wird im Smartphone, Tablet und Laptop im Prinzip immerzu und überall erledigt.

Wenn es unruhiger um uns wird, werden Ruhe, Raum und Zeit zum eigentlichen Luxus. Doch diese Begriffe, die Konzepte dahinter, verschwimmen. Eigentlich haben wir so viele Möglichkeiten, wie nie – und das lähmt uns. Unsere Gegenwart ist absolut, sagen die Macher der gleichnamigen Reihe. Mit Vorträgen und Diskussionen, Musik und Performances gingen sie Fragen nach, die uns so lange nicht dringend erscheinen, bis wir bemerken, dass sie nicht von allein verschwinden.

Absolut ist unsere Gegenwart nicht nur, weil sie sich als eigentümliche Gleichgültigkeit und Zeitlosigkeit entpuppt, sondern auch da substanzielle Veränderungen in ihr zunehmend undenkbar werden. Die absolute Gegenwart ist eine paradoxe Zeit, der sowohl Beschleunigung als auch Stillstand, sowohl Rastlosigkeit als auch Erschöpfung attestiert werden.

Mit diesen Worten wurden die Vorträge angekündigt, die die gesellschaftlichen Symptome dieser absoluten Gegenwart untersuchten – und die wir im Juli und August nochmals ausstrahlen (ausführliche Ankündigung unten):

Die Redner suchen nach Antworten – in Politik und Arbeit, mit Blick auf unsere psychische Gesundheit, auf die Popkultur und die Gegenwartskunst und sie stellen die Frage, ob sich neue Ausdrucks- und Verhaltensweisen entwickeln.

Wir senden die Vorträge der Reihe „Absolute Gegenwart“ immer sonntags zwischen 18 und 19 Uhr.


19.07. – Mark Fisher: Nowhere Fast

Der Musikkritiker Simon Reynolds sprach vielen aus der Seele, als er schrieb, unser Alltagsleben beschleunige sich immer mehr, während unsere Kultur sich gleichzeitig irgendwie verlangsamt. Im Vortrag von Mark Fisher wird dieses scheinbare Paradox untersucht. Einerseits sind wir einer Reizüberflutung ausgesetzt – als ob stetig Blitze durch unser Nervensystem zucken, sind wir einem permanenten Angstgefühl ausgeliefert, das sich nicht selten in der Unfähigkeit, sich niederzulassen oder zur Ruhe zu kommen, äußert. Auf der anderen Seite scheint es, als ob die kulturelle Produktion das Gegenteil tut: zunehmend steril wird, stagniert, und sich in ein endloses Muster von unbewussten oder ignorierten Wiederholungen begibt.

Doch vielleicht ist das ist nur auf den ersten Blick ein Paradox. Vielleicht gibt es eine Verbindung zwischen beidem. Vielleicht kann das Neue in unserer Zeit sich einfach nicht so gut Bahn brechen, weil unsere Gehirne und unser soziales Miteinander einer steten Überlastung ausgesetzt sind? Gibt es also einen Weg heraus aus diesem Zustand, indem wir nirgendwo hin gehen, das aber sehr schnell? Mark Fisher denkt darüber nach. Beiträge und Essays veröffentlicht er auch auf seinem Blog.

Mark Fisher ist der Autor von Capitalist Realism (2009, dt. 2013) und Ghosts Of My Life: Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures (2014). Seine Texte erscheinen regel­mäßig in Zeitschriften und Magazinen wie The Wire, Frieze, The Guardian und Film Quaterly. Er ist Lecturer im Bereich Visual Cultures am Goldsmiths College, University of London. Außerdem hat er in Zusammenarbeit mit Justin Barton zwei gefeierte Audio-Essays produziert: londonunderlondon (2005) und On Vanishing Land (2013).

26.07. – Michael Hirsch: Mythos des Immergleichen oder Erneuerung des Fortschrittsbegriffs?

Die gegenwärtige Gesellschaft hat zunehmend dystopische Züge. Der Begriff des Fortschritts scheint verschwunden aus unserem Bewusstsein. Bis in die Semantik staatlicher Krisenpolitik hinein erscheint die gesellschaft­liche Entwicklung als alternativlos – wie eine absolute Gegenwart, welche für die Zukunft nur die Fortsetzung des Immergleichen oder Selbstzerstörung denken kann. Dem entsprechen die Techniken einer Regierung mit der Furcht: eine Rückbildung der Gesellschaft in entzivilisierte soziale Formen (Postdemokratie, Prekarität, Verwilderung der Arbeit, Sozialdarwinismus).

Diese Konstellation gilt es zu analysieren, ohne der unübersehbaren kulturpessimis­tischen Versuchung zu erliegen. Die gesellschaftliche Entwicklung verstehe ich als einen mythischen Bann. Er ist Ausdruck eines vorläufig gescheiterten Emanzipations­projekts: das Projekt des Neoliberalismus ist eines der Stillstellung gesellschaftspolitischer Weichenstellungen. Progressive Intellektuelle und Aktivisten sind mit einer scheinbar unentrinnbaren Vereinnahmung emanzipatorischer Bewegungen durch den neoliberalen Kapitalismus und seinen Staat konfrontiert. Die gesellschaftliche Entwicklung erscheint uns wie ein Bann. Wie Adorno aber sagt: Er ist nur ein Bann.

Michael Hirsch studierte Philosophie, Politikwissenschaft und Geschichte in Freiburg und Paris (u. a. bei Jacques Derrida und Alain Badiou), er lehrte und promovierte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, danach folgten verschiedene Lehrtätigkeiten u. a. in Hamburg, München, Stuttgart und Prag. 2014 habilitierte er sich im Fach Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Siegen mit der Schrift „Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft“. Hirsch lebt als freier Autor und Dozent in München – sein Essay „Wie wir leben wollen“ gibt es hier zum Download.

02.08. – Greta Wagner: Erschöpfung – eine Pathologie der Gegenwart?

Erschöpfung ist nicht nur ein Symptom bei den ansteigenden Diagnosen von Burnout und Depressionen, sondern auch ein Zustand, der zu einem Signum der Gegenwart geworden ist. Er folgt auf die paradoxalen Anstengungen des Besser-Werdens in endlosen Wettbewerben und die Versuche, dabei man selbst zu bleiben. Auch Ende des 19. Jahrhundert, als die Neurasthenie grassierte, sah man sich in einem Zeitalter der Erschöpfung. Wie damals entsteht heute das subjektive Empfinden der Erschöpfung und der begleitende medizinische Diskurs nach einer Phase der ökonomischen und sozialen Dynamisierung. Man sehnt sich zurück nach entspannteren Zeiten. Aber bietet die Erschöpfung auch einen Ausgangspunkt für Gesellschaftskritik?

Greta Wagner lehrt und forscht am Institut für Soziologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Doktorarbeit hat sie über Neuroenhancement geschrieben und darin pharmakologische Leistungssteigerung mit Medikamenten wie Ritalin in Frankfurt und New York untersucht. Sie interessiert sich für Formen der Selbstoptimierung und für das Scheitern daran. 2013 erschien bei Suhrkamp „Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft“, das sie gemeinsam mit Sighard Neckel herausgegeben hat – ihren Vortrag „Burnot – warum unsere Gesellschaft so erschöpft ist“ gibt es hier zum Anschauen.

09.08. – Ralph & Stefan Heidenreich: Verkaufte Zukunft

Kredite sind der Rohstoff der Finanzindustrie, sie projizieren Zahlungsforderungen in die Zukunft. Diese Forderungen werden routinemäßig versichert und an Dritte verkauft. Das hat zwei Effekte: Sie verwandeln sich unmittelbar in Vermögen. Und: Die Zukunft ist verkauft. Das heißt, sie ist versperrt und ihrer Möglichkeiten beraubt. Wehe, wenn diese verkaufte Zukunft nicht eintrifft.

Beschleunigung und Akzelerationismus helfen uns in dieser Lage kaum weiter. Erstens macht es keinen Unterschied, ob wir die schon verkaufte Zukunft schnell oder langsam erreichen. Und zweitens bleibt die Idee, „wir müssen die Zukunft aufbrechen“ leeres Gefasel, solange sie nicht ökonomisch fundiert und konkret gemacht wird. Es gibt wohl Wege aus der verkauften Zukunft, aber es macht Sinn, sie nicht nur philosophisch, sondern auch ökonomisch zu bedenken.

Ralph Heidenreich lebt in Biberach an der Riß, ist dort Stadtrat für Die Linke und arbeitet als Programmierer. Stefan Heidenreich lebt in Berlin, unterrichtet an der Universität Basel und forscht am Center for Digital Cultures der Universität Lüneburg. Ihr gemeinsames Buch „Mehr Geld“ gibt es hier zum Download.

16.08. – Peter Schneider: Depression, Schmerzstörung und Burnout. Gesellschaft und Diagnose

Macht die Gesellschaft depressiv, erschöpft und ausgebrannt? Trotz der Versprechungen der Psychiatrie, die Depression biologisch erklären und heilen zu können, hält sie sich beharrlich als Diagnose, die nicht nur das Individuum betrifft, sondern die Gesellschaft selber. In den Diagnosen Depression und Burnout artikuliert sich ein soziales Unbehagen, das über den bloßen Krankheitswert für das einzelne Subjekt hinausgeht: Ohne die Gesellschaftskritik, mit der diese Diagnosen aufgeladen sind, blieben sie letztlich unverständlich. Schneiders Vortrag beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen Konstruktion von und der Rekonstruktion der Gesellschaft durch Krankheiten.

Peter Schneider studierte Philosophie, Germanistik und Psychologie. M.A. in Philoso­phie, Dr. phil. und Habilitation in Psychologie. Er lebt und arbeitet in Zürich als Psychoanalytiker. Außerdem ist er Satiriker (SRF3 und SonntagsZeitung) und Kolumnist (Tages-Anzeiger und Der Bund). Er lehrt als Privatdozent für klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Universität Zürich und als Vertretungsprofessor für Pädagogi­sche Psychologie und Entwicklungspsychologie an der Uni Bremen und ist Autor zahlreicher Bücher zu psychoanalytischen, aber auch gesellschaftspolitischen Themen. Zusammen mit Bruno Deckert verlegt er die der sphèressays.

23.08. – Jan Völker: Das demokratische Subjekt und die Korruption der Zeit

Absolut ist unsere Gegenwart in Hinsicht auf die Zirkulation der Dinge und der Meinungen, in Bezug auf die Herrschaft der allgemeinen Äquivalenz. An diese Gegenwart ist die Frage zu richten, ob in ihr überhaupt noch eine Zeit stattfindet oder ob der demokratische Fetisch der Zirkulation nicht vielmehr die Angst vor der Zeit anzeigt. Zeit ist an das Unmessbare geknüpft, an die subjektive Erfahrung des Inäquivalenten. Gegen das Unmessbare aber setzt die Ideologie der demokratischen Zirku­lation eine reine Gegenwart ohne Zeitkörper. In dieser Zeitlosigkeit der Gegenwart zirkuliert das liberale demokratische Subjekt: sein Effekt ist die Korruption der Zeit, und sein Fetisch – die gegenwärtige, einheitliche Gleichzeitigkeit der Dinge und der Meinungen – markiert heute den Platz der Ideologie.

Jan Völker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunst­wissenschaft und Ästhetik an der Universität der Künste Berlin, Visiting Lecturer am Bard College Berlin und regelmäßig als Gastdozent am Institute of Philosophy, Scientific Research Centre in Ljubljana. Publikationen u.a.: Ästhetik der Lebendigkeit. Kants dritte Kritik (2011), Neue Philosophien des Politischen zur Einführung (Laclau, Lefort, Nancy, Rancière, Badiou) (2012, mit Uwe Hebekus).

30.08. – Marcus Quent; Lukas Holfeld & Philipp Schweizer : Versammlung – Studien aus der Absoluten Gegenwart

Lukas Holfeld & Philipp Schweizer: Gegen den Strich

Absolute Gegenwart – dieser Titel kennzeichnet die Geschichtslosigkeit in der sich die Verhältnisse darstellen. Ihr gegenüber zeigt kritische Theorie auf, dass das, was unabänderlich und ewig zu sein scheint, eine Geschichte hat, die von Menschen gemacht wurde und wird. Und mehr noch: dass diese Geschichte eine Kontinuität von Unterdrückung und Ausbeutung ist. Das impliziert wiederum, dass kritische Geschichtsarbeit parteiisch ist für jene, die für eine bessere Welt gekämpft und dabei verloren haben. Diese Parteinahme ist jedoch wertlos, wenn sie sich nicht gleichzeitig auf gegenwärtige Auseinandersetzungen bezieht. Wir wollen einige Thesen zu einer kritischen Geschichtsarbeit vortragen und uns dabei auf Erfahrungen aus eigenen Projekten beziehen.

Marcus Quent: Absolute Gegenwart. Geschlossene und geöffnete Zeit

Von der eigenen Zeit zu sprechen oder zu schreiben, scheint immer auch zu bedeuten, an einem Bild zu arbeiten, ein Bild der Gegenwart zu entwerfen, indem man ihr Elemente entnimmt und diesen eine Form gibt. Von der eigenen Zeit zu sprechen, (über) sie zu schreiben, heißt: arrangieren und verknüpfen, ausschneiden und verdichten. „Absolute Gegenwart“ nun ist das Bild einer ganz und gar herrschenden Jetztzeit, einer triumphierenden Gegenwart, deren Untergrund eine eigentümliche Zeitlosigkeit bildet, abgeschnitten und von allem losgelöst. So sehr mich das Bild ergreift, beunruhigt mich zugleich der Verdacht, dass die angenommene aussichtslose Lage der Wirklichkeit eine heimliche Allianz mit den totalisierenden Gesten ihrer Beschreibung bilden könnte. Die Gegenwart in den Blick zu nehmen, erfordert deshalb vielleicht an erster Stelle, die geläufigen Weisen ihrer Beschreibung und Präsentation zu betrachten und deren Anteil am ungeheuerlichen Charakter einer „absoluten Gegenwart“ auszumessen.


Wir senden die Vorträge der Reihe „Absolute Gegenwart“ immer sonntags zwischen 18 und 19 Uhr.

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