Tochter eines Widerstandskämpfers
Anneliese Schellenberger sitzt in ihrem Wohnzimmer voller Erinnerungen. Eine dieser Erinnerungen ist eine Matroschka, eine bunt-bemalte Puppe aus Holz. Die Farben sind im Laufe der Zeit etwas verblichen. „Sie ist so alt wie ich.“ 87 Jahre also. Ein Geschenk des Ehepaars Hoevel, als ihre Familie Wiesbaden Mitte der 1930er-Jahre verlassen musste.
Der Kommunist und Widerstandskämpfer André Hoevel hat in der zerlegbaren Figur die Ringe für die Verlobung mit seiner späteren Frau Anneliese von Moskau nach Wiesbaden gebracht. Nach ihr ist Anneliese Schellenberger benannt. André Hoevel ist bekannt geworden als Vorbild für einen der Protagonisten des KZ-Romans „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz. Er war Weggefährte, auch Genosse von Alfred Schellenberger, dem Vater der heute 87-jährigen Zeitzeugin.
Erinnerung an die Pogromnacht
So ist das Mädchen Anneliese also groß geworden im Faschismus, unter Kommunisten. Das hat sie geprägt. Als Neunjährige dann – sie lebt inzwischen in Leipzig – sieht sie, wie die Nationalsozialisten Gebäude der Feierhalle auf dem Neuen Israelitischen Friedhof in Brand setzen. Es ist der 9. November 1938, Reichspogromnacht. Der Hass und die Untätigkeit der Schaulustigen erschüttert sie noch heute.
Wenn die überzeugte Linke nun also in Sachsen die islamfeindliche Bewegung der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“, kurz Pegida, aufmarschieren oder die rechtspopulistische Partei „Alternative für Deutschland“ erstarken sieht – dann fühlt Anneliese Schellenberger sich an damals erinnert.
Früher haben sie ja Uniformen getragen. Aber diese Art und Weise heute … Auch die sind ja aggressiv. Und die Sprüche lassen nichts Gutes ahnen. – Zeitzeugin Anneliese Schellenberger
Antisemitische Übergriffe heute
Tatsächlich werden auch heute noch regelmäßig Menschen jüdischen Glaubens angegriffen. Im Februar grölte ein Betrunkener im Zug bei Dresden, „die Öfen in Auschwitz müssen wieder brennen. Dafür würde ich sogar selbst im Wald Holz holen.“ Eine Mitarbeiterin des Zwickauer Sozialamtes wird im März als „Scheiß-Jüdin“ beschimpft und ihre Familie mit dem Tod bedroht. In Leipzig wird im August die Ausstellung der jüdischen Fotografin Gerda Taro mit schwarzer Teerfarbe beschmiert.
Solche Übergriffe dokumentiert die Amadeu-Antonio-Stiftung. Sie fördert zudem Initiativen gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus.
Äußerungen gegenüber Minderheiten, also auch und gerade gegen Juden, sind wieder gesellschaftsfähig geworden. – Miki Hermer von der Amadeu-Antonio-Stiftung
Einfluss von Pegida
Darauf hätten auch Bewegungen wie Pegida Einfluss, meint Miki Hermer von der Stiftung. Der Antisemitismus sei zwar immer dagewesen, aber derzeit könne man ihn besser erkennen, weil er öffentlich geäußert wird. Dabei werden uralte Klischees bedient, die des vermeintlich reichen und mächtigen Judens mit starker Lobby.
Aber auch der Schulterschluss mit der jüdischen Gemeinde wird von Seiten Pegidas gesucht, so Dr. Nora Goldenbogen. Sie ist Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Dresden. Man habe sie aufgefordert, ebenfalls auf die Straße zu gehen. Andernfalls fände die jüdische Gemeinde bald keine Unterstützung mehr, berichtet Goldenbogen von Drohungen.
Wir müssten sogar, die Muslime seien doch auch unsere Feinde. – Dr. Nora Goldenbogen, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Dresden
Reporterin Insa van den Berg hat anlässlich des Gedenktages an die Opfer der Pogromnacht 1938 zu Antisemitismus damals und heute recherchiert. Sie spricht mit detektor.fm-Moderatorin Astrid Wulf über das Zusammentreffen mit der Zeitzeugin Anneliese Schellenberger.