Wachsendes Problem
Obdachlosigkeit gehört auch in deutschen Städten zur Normalität. Viele haben sich an den Anblick von in Decken gehüllten Obdachlosen gewöhnt. Viele fragen sich aber auch: Warum wird den Menschen nicht geholfen? Oder: Warum nehmen sie die vorhandenen Hilfsangebote nicht wahr? Fakt ist: Wir tun in Deutschland offensichtlich zu wenig. Die Zahl der Wohnungslosen ist seit 2010 um 90.000 gestiegen, auf nun insgesamt 335.000 Menschen, davon 29.000 Kinder. Ein Großteil der Wohnungslosen sind Männer: 220.000. Bis 2018 sollen in Deutschland laut Schätzungen 536.000 Menschen wohnungslos sein.
Als wohnungslos gelten nicht nur Menschen, die auf der Straße leben. Dazu gehören auch Menschen ohne festen Mietvertrag, die in Wohnungen auf Staatskosten leben, in Notunterkünften oder Heimen wohnen oder bei Verwandten untergebracht sind.
Wohnungspolitisches Umdenken
Nach einem Bericht der FEANTSA, einer Organisation, die Menschen ohne Wohnung in ganz Europa hilft, erreicht die Zahl der Obdachlosen in Europa ein kritisches Hoch. Am stärksten betroffen sind demnach Hauptstädte wie London, Paris, Wien oder Brüssel. Nur Finnland schaffe es als einziges EU-Land, die Zahl der Obdachlosen seit Jahren zu senken. Dort gelingt das durch ein Umdenken in der Wohnungspolitik. Dahinter steht die nationale Strategie „Housing First“.
Durch das Konzept „Housing First“ erhält jeder finnische Bürger, wenn er seine Wohnung verliert, sofort eine neue dauerhafte Wohnung. Und das Ganze soll dem Staat sogar Geld sparen. Denn herkömmliche Ideen und Hilfsangebote sind oft teurer, als Menschen einfach von Anfang an ein Dach über dem Kopf zu geben. So kostet zum Beispiel ein Transport ins Krankenhaus 700 bis 800 Euro. Da Einzelfälle von auf der Straße lebenden Obdachlosen bis zu zehn mal im Monat eingeliefert werden, können so Kosten von bis zu 8.000 Euro zustande kommen. Auch Notunterkünfte, Gesundheits- und Sozialprogramme oder die Kommunikation mit dem Bürger kosten Geld.
Armut in Deutschland
Hauptgründe für den Anstieg der Wohnungslosigkeit sind der angespannte Wohnungsmarkt und die zunehmende Verarmung einiger Bevölkerungsschichten. Diese Entwicklung lässt sich besonders in den USA verfolgen. Aus dem Bericht „The State of Homeless in America“ geht hervor, dass in den USA mittlerweile über eine halbe Million Menschen obdachlos sind.
Auch in Deutschland schrumpft offenbar die Mittelschicht. Laut dem Paritätischen Wohlfahrtsverband gelten in Deutschland über zwölf Millionen Menschen als arm. Immer weniger können sich die steigenden Mieten in Ballungszentren leisten. Gleichzeitig ist die Zahl der dringend benötigten Sozialwohnungen seit 2002 um eine Million gesunken.
Obdachlosigkeit extrem komplex
Wohnungsangebote allein sind jedoch oft nicht genug. Denn Obdachlosigkeit ist ein Problem, das mehr als nur das Fehlen eines festen Wohnsitzes beinhaltet. Sonst würde bei einer vom Sozialamt gezahlten Miete niemand mehr auf der Straße leben.
Es gibt Obdachlose, die gar keine Wohnung mehr wollen, da sie beengte Räume und nachbarschaftliches Zusammenleben nicht ertragen. Viele haben sich in ihren Lebensverhältnissen so eingerichtet, dass es ihnen schwer fällt, sich von ihrer Identität als Ausgestoßener zu lösen. Selbstschädigende Verhaltensweisen hängen dabei oft auch damit zusammen, dass viele Obdachlose nicht psychisch gesund seien, so eine Sozialarbeiterin eines Frankfurter Vereins für soziale Heimstätten e.V.
Die Wege in die Wohnungslosigkeit sind so vielfältig und heterogen wie die Zielgruppe der Wohnungslosen. Wir haben nicht ‚den‘ Wohnungslosen. – Harald Ansen, Professor für Soziale Arbeit an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Wie man das Problem der Obdachlosigkeit in den Griff bekommen kann und inwiefern das finnische Konzept auch Vorbild für Deutschland sein kann, darüber hat detektor.fm-Moderator Thibaud Schremser mit Harald Ansen gesprochen. Er ist Professor für Soziale Arbeit an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Was beinhaltet das Konzept „Housing First“ und warum ist es in Finnland so erfolgreich? Antworten darauf gibt das Interview von detektor.fm-Moderator Eric Mickan mit Volker Busch-Geertsema vom europäischen Observatorium zur Wohnungslosigkeit.
Redaktion: Thomas Weinreich & Alexander Goll