Antisemitismus vor Gericht
Der Antisemitismus hat Wurzeln bis ins Mittelalter, wurde während der Französischen Revolution auf pseudowissenschaftliche Art genetisch begründet und zur Verschwörungstheorie ausgebaut, mündete unter der NS-Diktatur im schlimmsten Verbrechen der europäischen Neuzeit – und es gibt ihn bis heute. Doch was genau heute darunter zu verstehen ist, das ist alles andere als klar. Zumindest im juristischen Sinne.
In den letzten Monaten zeigen zwei Gerichtsfälle deutlich eben jene Problematik auf. Erst landete der ehemalige Spiegel-Autor und jetzige Welt-Kolumnist Matthias Matussek vor Gericht, weil er einen Publizisten auf Facebook als Antisemiten bezeichnete. Matussek, der bereits vor diesem Vorfall mehrfach durch Provokationen ähnlicher Art aufgefallen war, wird nun auf Unterlassung und Schmerzensgeld verklagt.
Elsässer gegen Ditfurth
Brisanter ist ein Gerichtsurteil gegen die Autorin und ehemalige Politikerin Jutta Ditfurth, die bereits 2014 in erster Instanz vom Landgericht München verurteilt wurde. Ditfurth hatte Jürgen Elsässer als „glühenden Antisemiten“ bezeichnet. Elsässer gilt als einer der führenden Köpfe der rechten „Querfront-Strategie“ und ist Chefredakteur des „Compact“-Magazins, in welchem er, wie es die Wikipedia formuliert, „rechtspopulistischen, antiamerikanischen und verschwörungstheoretischen Positionen ein Forum bietet“.
Das Landgericht urteilte gegen Ditfurth mit der Begründung, dass nur derjenige ein Antisemit sei, der sich positiv auf das Naziregime von 1933-1945 beziehe.
Man hat sich überhaupt keine Mühe gemacht, den momentan sozusagen zeitgemäßen Anitsemitismus-Begriff mal zu klären. – Rechtsanwalt Achim Doerfer
Moderner Antisemitismus
Man wird wohl annehmen können, dass es heute einen neu aufgeladenen, modernen Antisemitismus-Begriff gibt: Wenn Juden per se negative Eigenschaften zugeschrieben werden, dies rassistisch oder genetisch begründet wird, wenn von einer modernen „jüdischen Weltverschwörung“ oder dem sog. „internationalen Finanzjudentum“ die Rede ist, wenn der israelisch-palästinensische Konflikt als Beweis für schlechte Eigenschaften jüdische Menschen herangezogen wird.
Überlegungen wie diese scheinen bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt worden zu sein – genau so wenig wie die Tatsache, dass sich solche Positionen heute anders und schneller verbreiten:
Man kann im Internet Prozesse beobachten, die sich oft selbst verstärken und wo ja, wie in einem normalen Diskurs, unter vier Augen kein sich aufeinander zu Bewegen stattfindet. Sondern es wird ja in den Online-Foren schnell virtuell handgreiflich. – Rechtsanwalt Achim Doerfer
Über die Frage, wann man in Deutschland jemanden einen Antisemiten nennen darf und warum das einer neuen Positionsbestimmung bedarf, haben wir mit Rechtsanwalt Achim Doerfer gesprochen, der das Verfahren gegen Matthias Matussek führt und Jutta Ditfurth juristisch berät.
Redaktion: Mirjam Ratmann / Moderation: Constanze Müller