Erwerbsarmut in Deutschland
Die Hans-Böckler-Stiftung hat eine Studie zur Entwicklung der Erwerbsarmut in der EU veröffentlicht. Erwerbsarmut bedeutet, dass ein Arbeitsnehmer trotz Beschäftigung als armutsgefährdet gilt. Die Studie selbst beschreibt, wie arbeitsmarktpolitische Entscheidungen in 18 EU-Ländern die Erwerbsarmutsquote beeinflussen.
Offiziell ein Arbeitnehmer als erwerbstätig, wenn er mindestens seit sechs Monaten bei einem Arbeitgeber beschäftigt ist. Als armutsgefährdet gilt eine Person, die weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen deutschen Einkommens (mittleres Einkommen) verdient.
Deutschland liegt mit einer Quote von 9,6 Prozent Erwerbsarmut genau im Durchschnitt aller 28 EU-Länder. Allerdings hat sich der Anteil der Erwerbsarmen zwischen 2004 und 2014 in Deutschland verdoppelt. In keinem anderen Land ist der Wert so stark gestiegen.
Keine Chance
Die Arbeitslosenquote in Deutschland ist vergleichsweise gering. Das liegt unter anderem daran, dass die Jobcenter mit Sanktionen starken Druck auf die Arbeitslosen ausüben. Lehnen diese ein Jobangebot ab, das der Sachbearbeiter für angebracht hält, wird zum Beispiel die Grundsicherung gekürzt.
Deshalb nehmen Arbeitssuchende auch Jobs an, für die sie überqualifiziert sind, und müssen dann im Niedriglohnsektor arbeiten. Auch Langzeitarbeitslose ohne eine bessere Qualifikation haben es schwer aufzusteigen.
In den letzten Jahren wurde versäumt, Langzeitarbeitslosen eine abschlussorientierte Weiterbildung zu ermöglichen, mit der sie dann auf dem Arbeitsmarkt qualifiziert und konkurrenzfähig sind. – Dr. Karin Schulze Buschoff, Hans-Böckler-Stiftung
Mehr Fördern als Fordern
Die Studie gibt auch Vorschläge dazu, wie die Politik den Arbeitsmarkt nachhaltiger gestalten könnte. Sie lobt die Einführung des Mindestlohns. Ähnliche Initiativen sollten nun in Zukunft die weitere Ausweitung des Niedriglohnsektors einschränken. Außerdem gilt es, Weiterbildungen für Personen, die bereits eine Arbeit haben, zugänglich zu machen.
Weiterbildung ist in Deutschland durchaus als Wert anerkannt, aber es wurde trotzdem zu wenig investiert. – Dr. Karin Schulze Buschoff
Denn in Deutschland arbeiten fast 40 Prozent der Arbeitnehmer in atypischer Beschäftigung. Das schließt alle Beschäftigungsarten ein, die außerhalb der „gängigen“ 40-Stunden-Woche in Festanstellung liegen. Damit sich in diesem Bereich überhaupt Aufstiegschancen bieten, müsste der Staat Weiterbildungen verstärkt finanzieren.
Dr. Karin Schulze Buschoff hat für die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung an der Studie über Erwerbsarmut in Deutschland und der EU mitgearbeitet. Über die Ergebnisse hat sie mit detektor.fm-Moderator Thibaud Schremser gesprochen.
Redaktion: Dorothea Günther