Extreme Themen brauchen extreme Aktionen, um auf sie aufmerksam zu machen. Beim Sterben der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer und an Europas Grenzen sind die Schreckensbilder den meisten Menschen mittlerweile bekannt. Mit zunehmender Berichterstattung geht aber auch eine gewisse Abstumpfung einher, gepaart mit routinierter Verdrängung. Und so rücken die Leichen im Mittelmeer ganz schnell wieder aus der eigenen Wahrnehmung heraus.
Die große Aufregung um die 700 Toten vor ein paar Monaten, sie ist längst abgeflaut – und kaum etwas hat sich an der Situation verändert. Das Künstlerkollektiv „Zentrum für politische Schönheit“ zerrt das Thema nun mit seiner Aktion „Die Toten kommen“ schmerzhaft wieder ins kollektive Bewusstsein der Bevölkerung.
Es geht hierbei im Großen um den europäischen Mauerfall. Wir sind in der Lage, diese Menschen zu retten. Dieses Sterben muss enden. – Justus Lenz, Sprecher des Zentrums für politische Schönheit
Bestattung von Mutter und Kind in Berlin
Das Zentrum für politische Schönheit wurde unter Anderem vergangenes Jahr mit seiner Aktion „Erster Europäischer Mauerfall“ bekannt. Pünktlich zum deutschen Mauerfall-Gedenktag hatten die Künstler Gedenkkreuze für Mauertote aus dem Regierungsviertel entwendet. Ihr Ziel: Die Kreuze an den europäischen Grenzzaun zu bringen, an dem jedes Jahr tausende Menschen scheitern – und teilweise sterben.
Anfang der Woche wurde dann eine neue Aktion angekündigt, die noch mehr Wirbel erzeugt, als die letzte. Die Künstler erklärten, mindestens zehn Leichen von Geflüchteten exhumiert und identifiziert zu haben. Diese Leichen seien nun auf dem Weg nach Berlin.
„Quatsch, das machen die doch nicht wirklich“, war die ungläubige erste Reaktion vieler. Doch das politische Künstlerkollektiv machte seine Ankündigungen wahr: Am Dienstagmorgen ist ein Sarg auf einem Friedhof in Berlin-Gatow bestattet worden. In ihm sollen sich die sterblichen Überreste einer syrischen Frau befinden. Symbolisch wurde auch ihr zweijähriges Kind, dessen Körper nie gefunden wurde, beerdigt. Ein Imam führte die Bestattung nach islamischer Tradition aus.
Ein besonderes Detail der Beerdigung: ein Ehrenpodest, mit zwei Reihen leerer Stühle. Die Aktivisten hatten mehrere hohe Staatsvertreter und Minister, darunter Kanzlerin Merkel und Innenminister Demaizière eingeladen.
Erschreckende Zustände vor Ort
Sechs Monate hatten die Künstler dafür recherchiert und geplant. Sie sind in Grenzstädte Italiens und Griechenlands gefahren, um sich die Zustände vor Ort anzusehen. Was sie dort antrafen, war die völlige Überforderung der Behörden. Leichenhallen seien überfüllt, man komme mit den Beerdigungen nicht hinterher, Leichen würden teilweise in provisorischen Kühlräumen verrotten.
Die Künstler exhumierten nach eigenen Angaben mehrere Leichen und identifizierten sie. Sie informierten die Angehörigen und holten deren Einverständnis ein, die Leichen nach Deutschland zu überführen. Nun sollen mehrere Transporter mit Leichen auf dem Weg nach Berlin sein.
Die Aktivisten sprechen davon, dass sie Tausend tote Geflüchtete nach Deutschland bringen wollen. Per Crowdfunding wurden innerhalb weniger Stunden die Mittel für die erste Bestattung gesammelt.
Wir möchten diese Menschen begraben. Wir möchten ihnen die Würde zurückgeben, die ihnen an der EU-Außengrenze genommen wurde. – Justus Lenz
Das „Zentrum für politische Schönheit“ geht noch weiter mit seinen Plänen. Am Sonntag wollen sie in einem „Marsch der Entschlossenen„, angeführt von einem Bagger, vor das Bundeskanzleramt ziehen. Dort sollen ein Friedhof und eine Gedenkstätte für „den unbekannten Einwanderer“ entstehen.
Die Künstler geben sich fest davon überzeugt, dass sie dort Geflüchtete beerdigen werden. Sie wollen, dass diejenigen, die sie für das Massensterben verantwortlich machen, jeden Tag buchstäblich über Leichen gehen müssen, um ihre Arbeit zu verrichten.
Viel Kritik im Vorfeld
Die Aktion ruft bei den Meisten gemischte Gefühle hervor. Einerseits ist die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu stark, um von politischen Entscheidungsträgern auf Dauer ignoriert zu werden. Andererseits steht die Frage im Raum, wie weit politische Aktion gehen darf und wie es um die Würde der Menschen und die Totenruhe der Leichen steht, wenn diese für eigene Aktionen instrumentalisiert werden. Und auch die größte aller Fragen wird vom Zentrum für politische Schönheit bewusst gemieden: Sind da nun wirklich Leichen unterwegs und in den Särgen, oder lebt die Perfomance allein von der Symbolik?
detektor.fm-Moderator Christian Bollert hat mit Justus Lenz, Sprecher des Zentrums für politische Schönheit, über moralische Grenzen und das Vorgehen der Gruppe gesprochen.
Redaktion: Mona Ruzicka