Irgendwann im Laufe der Zeit schlug die menschliche Evolution einen anderen Weg ein: Das menschliche Gehirn ist, gemessen am Körpergewicht, viel größer als das Gehirn anderer Säugetiere. Vor allem die menschliche Großhirnrinde, die als Sitz unseres Bewusstseins angesehen wird, ist überproportional groß.
Klar, auch beim Gehirn ist Größe nicht alles – aber auch die Zahl von Nervenzellen ist um einiges höher, als bei anderen Säugetieren.
Was sind mögliche Gründe dafür?
Forscher vom Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden haben sich dieser Frage angenommen.
Antworten fanden die Wissenschaftler, als sie sich das werdende Gehirn ansahen.
Eine entscheidende Rolle bei dessen Entwicklung spielt das chemische Element Jod – im Alltag vor allem beim Würzen von Speisen im Gebrauch.
detektor.fm-Redakteur Max Heeke sprach mit Wieland Huttner, dem Präsidenten des Max-Planck-Instituts, und erklärt, wie sich das menschliche Gehirn entwickelt und warum Jod dabei so wichtig ist.
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Das Skript zum Nachlesen
Faszination Gehirn: Wie kommt es, dass das menschliche Gehirn, gemessen am Körpergewicht, so groß ist, so viele Nervenzellen beherbegt und zu so erstaunlichen kognitiven Leistungen im Stande ist?
Was unterscheidet die Entwicklung des menschlichen Gehirns, vor allem die der so entscheidenden Großhirnrinde, von der Entwicklung bei anderen Lebewesen?
Mit diesen Fragen im Hinterkopf machten sich Forscher vom Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik auf die Suche nach Antworten. So viel sei vor weg gesagt: Jod spielt eine elementare Rolle bei der Entwicklung der Großhirnrinde.
Doch zurück zum Anfang: Wie entsteht überhaupt ein Gehirn?
Bereits in den ersten Tagen nach der Befruchtung entwickelt sich beim Föten ein Vorläufer des zentralen Nervensystems. Gehirn und Rückenmark bilden sich aus dem so genannten Ektoderm, aus dem auch unsere Haut entsteht. Wieland Huttner, Präsident des Max-Planck-Instituts erklärt, was in der Frühphase der menschlichen Enwicklung geschieht:
Wenn ein Säugetier entsteht, oder ein Vertebrat entsteht, ein Wirbeltier entsteht, dann gibt es diese so genannten Keimblätter oder Keimscheiben, mit Endoderm, daraus entsteht zum Beispiel der Darm, und Ektoderm, daraus entsteht die Haut. Und ein bestimmter Bereich dieses Ektoderms wird zu einem Neuroektoderm induziert. Das sind Detailfragen, wie das geschieht. Und wenn das passiert, stülbt sich das ein und macht das [Neuroektoderm, M.H.] zum Neuralrohr. Das ist also der Bereich, der vom Vorderlappen des Kopfes bis zum Rückenmark runter, zum Becken geht. – Wieland Huttner, Präsident des Max-Planck-Instituts für molekulare Zellbiologie und Genetik
Dieses Neuralrohr besteht aus verschiedenen Segmenten. Das oberste Segment, das am Kopf liegt, bildet das spätere Gehirn. Noch kann aber keine Rede sein von Nervenzellen, die Informationen verarbeiten und übertragen. Auch die Nervenzellen müssen erst entstehen, und zwar aus den Stammzellen- den Alleskönnern der Evolution. Und hier setzt das aktuelle Forschungsprojekt des Max-Planck Instituts für molekulare Zellforschung an:
Es geht um die Entwicklung der Großhirnrinde, das ist der Teil des Gehirns, in dem unsere wesentlichen kognitiven Leistungen angesiedelt sind. Beim Menschen, der bekanntlich eine 40-wöchige Schwangerschaft hat, befinden wir uns irgendwo in der 12. bis 20. Woche des Föten. – WIeland Huttner
In dieser Phase bilden sich beim Menschen im Gehirn Stammzellen, die ein bestimmtes Merkmal aufweisen: Sie können sich mehrfach teilen. Um die Besonderheit dieses Merkmals zu zeigen, verglichen die Forscher menschliche Stammzellen mit denen von Mäusen.
Und der Unterschied ist, dass beim Menschen, die sich mehrfach teilen können, deshalb eben diese wochenlange Produktion von Nervenzellen, und bei der Maus teilen die sich exakt einmal in zwei Nervenzellen und dann ist es vorbei. Deshalb hat die Maus ein kleines Gehirn. – WIeland Huttner
Die menschlichen Stammzellen können sich nicht ohne Grund teilen. Sie produzieren die so genannte Extrazelluläre Matrix:
Das ist so eine Art Umgebungssubstanz, die ein bestimmtes Milieu schafft für die Zelle, wo Wachstumsfaktoren sich gerne aufhalten und dann auf die Zellen wirken können. Und das machen die menschlichen Stammzellen, nicht aber die Mausstammzellen. – WIeland Huttner
Die extrazelluläre Matrix begünstigt die Produktion von Nervenzellen. In einer Machbarkeitsstudie wollten die Forscher nun nachweisen, dass sich auch Mausstammzellen mehrfach teilen können. Sie injizierten einen Antikörper in die Gebärmutter einer narkotisierten schwangeren Maus. Dadurch konnten sie bei Mausstammzellen das gleiche Milieu wie beim Menschen simulieren und so die Nervenzellproduktion anregen.
Und an dieser Stelle kommt das eingangs erwähnte Jod ins Spiel. Die Forscher entdeckten nämlich ein bestimmtes Schilddrüsenhormon, das für die Bildung von Nervenzellen wichtig ist:
Die schwangeren Frauen, die werdenden Mütter müssen genug Jod essen, damit Schilddrüsenhormone gebildet werden können, denn die sind von essentieller Bedeutung für die Gehirnentwicklung des werdenden Menschen, auch für andere Organe. Wenn Jod fehlt, werden Menschen geboren, die mental retadiert sein können, eine Krankheit, die man als Neurokretinismus bezeichnet. – Wieland Huttner
Ist genug Jod vorhanden, können sich die Schilddrüsenhormone bilden. Im Zusammenspiel mit der Extrazellulären Matrix sind sie verantwortlich für die große Produktion von Nervenzellen beim Menschen.
Die Wissenschaftler konnten mit ihrer Studie nun auf Zellebene zeigen, welche Mechanismen die Entwicklung des Gehirns begünstigen, und warum Jod dabei so eine wichtige Rolle spielt. Ihre Erkenntnisse sind ein weiterer Mosaikstein in der Hirnforschung.
Ob wir jemals die ganze Wahrheit über unser Gehirn erfahren werden oder erfahren können, ist eine Frage, die über den Rahmen der molekularen Zellbiologie hinausgeht.