Weblog, Weltgipfel, Krisenregion – wir leben in einem Zeitalter, das von Datenüberflutung und Zerfallserscheinungen geprägt ist. Nicht selten suchen wir da nach einem Ort der Ruhe und Verlässlichkeit… Und finden ihn von Zeit zu Zeit – wenn auch nur in der Phantasie.
Dieser Rückzug beschäftigt auch Angela Krauß. Seit den 1980er Jahre veröffentlicht die in Leipzig lebende Autorin ihre gesellschaftskritischen und doch emotionalen Prosawerke. In ihrer neusten Erzählung geht die preisgekrönte Schriftstellerin auf die Suche nach einer Alternative zur beschleunigten, gesichtslosen Welt von heute; auf die Suche nach dem „schönsten Fall“. Es ist auch der Versuch, der Welt eine Ordnung zu geben, sie zumindest zu beschreiben, erschreiben.
Im Mittelpunkt des Prosagedichts steht eine Frau die „heimlich wie jeder Mensch am Glück arbeitet“ – ganz inmitten dieser zersplissenen Welt. „Während die Welt am Scheideweg zu stehen scheint, erinnert Angela Krauß an ein Licht in allem Lebendigen. An Schönheit, Wahrheit. Und eine Sehnsucht, die man im alltäglichen Lebenskampf längst vor sich zu verbergen gelernt hat.“, sagt die Schriftstellerin Anke Bastrop. Hören Sie hier ihre Buchbesprechung
Die Errichtung des Weltgebäudes
In einer Hochzeit des Worst Case erschafft Angela Krauß den „Schönsten Fall“
„Das Weltgebäude will errichtet werden! Man muß ja irgendwo wohnen.“ Es ist eine abenteuerliche Ansage, die Angela Krauß in ihrem neuen Buch macht. Ausgerechnet heute, wo alles zu zerfallen droht, zielt sie auf etwas ab, an das allenfalls ein Kind noch glauben mag: die Verwandlung der Welt. Sie ist der Zündpunkt für ihr Buch „Im schönsten Fall“, ein leidenschaftliches Zwiegespräch mit dieser Welt, in der ein Seelenwesen so nicht weiter kann. „Heimlich arbeite ich wie jeder Mensch am Glück. Ein Balanceakt!“
In Pendelbewegungen zwischen der Kindheit in den Fünfziger Jahren, der „lose herumfliegenden Zukunft“, den Verläufen einer Liebe und den Taktschlägen des täglichen Lebens ist diese Frau dem Dasein als Ganzem auf der Spur. Ein Vorhaben, das nur ein Träumender ergreifen kann, ein Kind, oder ein Dichter.
„Ich stelle mir immerzu etwas darunter vor, unter dem was ist. Wenn ich jemanden küsse, höre ich auch nicht auf damit. Beim Küssen springt die Vorstellung davon mit einem Knall auf, wie ein Fallschirm über mir. Ich lasse den Kopf zurückfallen und schaue mit geschlossenen Augen in das ganze Sein. Ist der Kuß vorbei, zerfällt es wieder in seine Einzelteile, eine Zahl mit Unendlichkeitszeichen.“ So beschwört sie gleichsam in letzter Minute die Splitter dieser Welt herauf und hält sie ins Licht: Japan, die ewigen Moose Islands, Indien, Amerika, Paris, Weltgipfelberichte und ein hohes, elfenbeinfarbenes Gründerzeithaus, „amtlicher Aufenthaltsort“ der Ich-Erzählerin, samt seiner eigenartigen Bewohner – um sie wieder zusammenzusetzen zu einem bewohnbaren Raum.
„Es läßt sich vieles denken, die Erde als Scheibe oder das Ganze als ein in den endlosen Raum geworfenes Hologramm, wenn das eine wie das andere nicht einen Haken hätte: Karel und ich müssen darin leben.“ Wie auch in ihren früheren Werken schlägt Angela Krauß einen eigenartigen wie einmaligen Ton an: Er ist von schärfster Präzision, zugleich komisch und traumwandlerisch entrückt, er ist zupackend, zärtlich. Er umfängt den Leser auf eine Weise, daß er sich in einem vertrauten Raum zu wähnen beginnt, wo er verstanden und gekannt wird. Unter dieser „Umfassungsgeste“ liegt unmißverständlicher Ernst: Immer geht es ums Ganze, ums Leben.
Während ein Weltgipfel auf den anderen folgt, arbeitet die Erzählerin in einem anspielungsreichen Dialog mit dem Leser an der Verwandlung der Welt in ein Weltgebäude. Das alles vollzieht sich beinahe so, als blickte ein Kind in die Welt: voller Vertrauen auf die Kraft des Ursprungs aus einem Punkt, „der auf groteske Art und Weise zugenommen hat“. So geschieht etwas Seltsames beim Lesen dieses Buches: als verwandelte sich die zersplissene Welt in ein atmendes Wesen zurück. Das man fühlen und erleben kann. Das sich wieder mit dem eigenen Leben verbindet. Und über allem schwebt wie jener prächtige Tropenfalter im Zimmer der Erzählerin die Vorstellung von einem vollkommenen Dasein: „Ein Gefühl von etwas Plastischem, in dem man lebt, etwas Mehrdimensionales, in dem etwas mit einem passiert, das einen wiederrum ausfüllt. Etwas tief und irisierend Leuchtendes. Etwas unvergleichlich Strahlendes.“
Kann man solches erlesen? Während die Welt am Scheideweg zu stehen scheint, erinnert Angela Krauß an ein Licht in allem Lebendigen. An Schönheit, Wahrheit. Und eine Sehnsucht, die man im alltäglichen Lebenskampf längst vor sich zu verbergen gelernt hat. Dieses Buch läßt den, der es liest, verändert zurück. Es ist eine Art Wiederbelebung, die einem hier widerfährt, oder auch: ein schönstmöglicher Fall.
Angela Krauß: Im schönsten Fall. Berlin (2011): Suhrkamp. 101 S. 14,90 Euro