Unsere Lieblingsalben 2022
Martin Hommel: Sophia Blenda – Die Neue Heiterkeit
„Die Neue Heiterkeit” von Sophia Blenda ist das Album, was mich dieses Jahr am meisten überrascht hat. Sophia Blenda – oder Sophie Löw, wie sie eigentlich heißt – schafft auf ihrem Solodebüt zwar erstmal genau das, was sie auch schon mit ihrer Band CULK gut macht: poetische, teils abstrakte Texte, die mal mehr mal weniger auf den Punkt formuliert Denkanstöße geben und unser Zusammenleben hinterfragen. Ohne viel Pathos aber immer bissig. Anders als bei CULK packt sie diese hier aber in unfassbar reduzierte Instrumentierungen und kreiert damit nochmal eine ganz andere Nähe und Intimität. Dass leise Alben in einem sehr vollen Release-Kalender vielleicht eher übersehen werden, als die, die auf die 12 hauen, nimmt sie in Kauf. Und liegt damit zumindest bei mir genau richtig. Piano, ein paar Streicherflächen, weirde Sounds und entfernte Beats bauen einen düsteren Umhang um ihre Vocals und haben mich als Hörer nicht losgelassen. In einem recht stressigen Jahr 2022 war „Die Neue Heiterkeit” definitiv ein wohliger Rückzugsort.
Anton Burmester: Benjamin Clémentine – And I have been
Benjamin Clémentines Musik zu beschreiben, ist mit typischen Genre-Begriffen kaum möglich. Und auch sein drittes Album „And I Have Been“ ist wieder ein wilder, aber präziser Ritt durch verschiedenste Einflüsse: Jazz und Soul, moderne Klassik und Barock gepaart mit poetischen Texten, die er mit seiner gewaltigen Stimme vorträgt. Etwas zugänglicher als die vorigen Alben ist „And I Have Been“ trotzdem, ohne dass die Platte an Kraft und Virtuosität verliert. Das wird auch so weitergehen, denn das Album ist – wie Clementine sagt – „just the tip of the iceberg“ einer Trilogie, die im kommenden Jahr vervollständigt werden soll. Das werden dann aber auch die letzten drei Alben des britischen Musikers gewesen sein, bevor er sich voll und ganz einer Schauspielkarriere widmen möchte, die ihren Anfang schon im Film „Dune“ genommen hat.
Marie Jainta: Fontaines D.C. – Skinty Fia
Das D.C. in Fontaines D.C. steht für Dublin City. Das trifft nicht mehr so wirklich zu, denn ein Großteil der irischen Band lebt mittlerweile in London. Ein nicht ganz unwichtiges Detail, denn auf „Skinty Fia“, ihrem dritten Album, geht es vor allem auch um die Zerissenheit ihrer irischen Identität und Zugehörigkeit. Nachdem ihr eindringlicher, dicht produzierter Sound schon auf „Dogrel“ (2019) und „A Hero’s Death“ (2020) sämtliche Post-Punk Herzen glücklich gestimmt hat, setzt „Skinty Fia“ dem noch eine Krone auf. Wütende Hau-Drauf-Attitütde findet genau so Platz wie zärtliche Töne mit irischem Akzent. Ein großartig düsteres und stimmungsvolles Album von einer Band, die damit hoffentlich nur einen von viele weiteren Höhepunkten erreicht hat.
Yannic Köhler: Fuffifufzich – Heartbreakerei
Fuffifufzich ist mit Sicherheit eines der interessantesten Pop-Phänomene im deutschsprachigen Raum der letzten Jahre. Die dahinterstehende Schauspielerin Vanessa Loibl kennt man vielleicht aus der ARD-Serie „Unsere wunderbaren Jahre“ oder dem Kinofilm „O Beautiful Night“. In der Rolle der Fuffifufzich performte sie 2019 im Theaterstück „Don’t be evil“ an der Berliner Volksbühne. Bald darauf erschien mit Heartbreakerei (feat. Magic Island) die erste Single der Kunstfigur und mauserte sich bald zu einem kleinen Internet-Hit. Das Debütalbum mit demselben Namen folgte dann diesen Oktober. Musikalisch lässt sich Heartbreakerei irgendwo zwischen Retro-Synth-Pop und zeitgemäßem Elektro-Pop-Sound verorten. Das Album lebt aber vor allem von Fuffifufzichs extravaganter Attitüde und dem speziellen Humor. Halb ironisch, halb ernst macht sich Fuffifufzich dabei auch eine Art Kunstsprache zu eigen – gespickt mit seltsam verfremdeten Worten, dem exzessiven Gebrauch von Anglizismen und der – in der deutschen Popmusik bis dato wohl einmaligen – Verwendung des doppelten Perfekts.
Jessica Hughes: Σtella – Up And Away
Die Athener Musikerin Σtella (oder: Stella with a sigma) ist in griechischen Indiekreisen schon bekannt. Seit 2015 hat sie drei Alben mit verspieltem Synth-Pop veröffentlicht und es mit ihrem neuesten Werk auf das bekannte Label Sub Pop geschafft. Auf „Up And Away“ schlägt Σtella eine neue musikalische Richtung ein und kombiniert sowohl griechische Folklore mit zeitgenössischem Indierock. Die Bouzouki – die griechische Schalenhalslaute – ist dabei das Starinstrument und erinnert an den griechischen Rembetiko. Seine Blütezeit feierte dieser Stil in den 30ern in den Häfen Athens, wo sich viele Geflüchtete tummelten. Das Genre wird als griechischer Blues bezeichnet und mischt griechische Volksmusik mit osmanischen Musiktraditionen. Kein Wunder also, dass viele der Songs auf „Up And Away“ sehnsuchtsvoll und melancholisch klingen, andere dafür aber beschwingt und tanzbar. Ermutigt wurde Σtella zum Stilwechsel durch Bands, wie Altin Gün, die in ihrer Musik auf türkisches Liedgut und Popmusik der 70er und 80er Jahre zurückgreifen. Oder auch Khruangbin, die sich u.a. auf alte Funkkassetten aus Thailand beziehen.
Anke Behlert: Cass McCombs – Heartmind
Der kalifornische Songwriter Cass McCombs hat 2003 sein Debütalbum „A“ veröffentlicht, was noch ziemlich lofi/garagig daherkam. Seitdem hat er musikalisch unterschiedliche Sachen gemacht, die man mehr oder weniger in die heterogene Schublade Americana einsortieren kann. Darunter auch Kollaborationen mit Angel Olsen oder der Tuareg-Band Tinariwen. Im August ist das zehnte Album „Heartmind“ erschienen, auf dem er sich musikalisch zwischen Folk, Indierock, Blues und Country bewegt, mit Ausflügen in den Jazz. In den oberflächlich einfachen, aber bei genauem Hinhören nicht nur emotional vielschichtigen, Songs verarbeitet McCombs auch ernste Themen wie den Verlust von guten Freunden mit viel Tiefgang und subtilem Humor. Ein großartiges, spannendes Album.
Gregor Schenk: Wet Leg – Wet Leg
Schon in unserem Jahresrückblick 2021 war der Wet-Leg-Hype allgegenwärtig. Spätestens seit im April das Debütalbum des Indierock-Duos um Rhian Teasdale und Hester Chambers von der Isle of Wight erschienen ist, kann man festhalten: Wet Leg sind kein One-Hit-Wonder. Das Album vereint zwölf wache, erfrischende Gitarrensongs mit viel Wortwitz und hoher Gag-Dichte. Mit einer gehörigen Portion Selbstironie tragen Wet Leg ihr Bad-Girl-Image vor, drehen Rollenklischees auf links und klingen dabei unangestrengt cool. Dass man mit geschrammelten Power Chords keine musikalische Revolution lostritt, war eh klar, doch mindestens dieses Jahr sind Wet Leg einmal mehr das Highlight, auf das sich viele einigen können.
Die kombinierte Alben-Top Ten der detektor.fm-Musikredaktion
1. Wet Leg – Wet Leg
2. Fontaines D.C. – Skinty Fia
3. Black Country, New road – Ants from up there
4. Die Nerven – Die Nerven
5. Toro y Moi – Mahal
6. Nilüfer Yanya – Painless
7. Liraz – Roya
8. The Smile – A Light for Attracting Attention
9. Dry Cleaning – Stumpwork
10. Porridge Radio – Waterslide, Diving Board, Ladder To The Sky
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