Wir leben in einer Welt, in der Beziehungen per SMS oder über Facebook geführt werden, in der Gesellschaften sich spalten in Menschen, die mit Religion nichts mehr anfangen können und solche, die so radikal gläubig sind, dass sie bereit sind, für ihre Überzeugungen andere Menschen in die Luft zu sprengen. Es gibt keine Lebensläufe mehr, die absolut geradlinig aussehen – Umwege, Abbrüche und Neustarts sind normal. Und mittendrin in dieser schrecklich schönen neuen Welt Knut Stenert, der Mann, in dessen Kopf und an dessen Küchentisch die Songs von Samba entstehen. Songs, die vielleicht nicht erklären, aber zumindest hinterfragen, wie diese Welt und wie die Menschen darin funktionieren.
Knut Stenert ist ein kritischer Denker und ein genauer Beobachter, dessen Texte eine Ernsthaftigkeit haben, die man hinter einem unbekümmerten Bandnamen wie „Samba“ nicht vermutet. Aber dann ist da eben die Musik. Und die ist trotz aller Nachdenklichkeit und beinah philosophisch angehauchter Betrachtung von einem geradezu unverbesserlichen Optimismus durchzogen – Stenert nennt es den „Trostfaktor“ in der Popmusik.
Dieser Hoffnungsaspekt und die Lebensstütze waren mir immer wichtig. In den letzten Jahren hat dieses Gefühl der Leere noch einmal zugenommen. Die Partnerschaften und die ewige Liebe funktionieren erkennbar nicht, die Jobsituationen sind auf sehr viel Fluss und Veränderung angelegt. Neuerdings, seit dieser so genannten „Kapitalismuskrise“, glaubt man auch nicht mehr an das Wachstum und das Fortschreiten der Wirtschaft und macht sich wieder Gedanken über alternative Gesellschafts- und Erwerbsmodelle. Und diese ganzen Brüche, die damit einhergehen und wie Menschen damit umgehen, das interessiert mich.
Stenert ist nicht direkt auf Krawall gebürstet, aber in jedem Fall gegen den Strich. In seinen Songs hinterfragt er Welt- und Selbstbilder, auch wenn das vielleicht ein bisschen am Ego kratzt.
Am neuen Album haben Stenert und Kollegen etwa zwei Jahre gearbeitet, grob gerechnet von den ersten Songideen bis zum fertig abgemischten Endergebnis. Meistens, sagt Stenert, sei man sich innerhalb der Band doch sehr einig gewesen, welche musikalische Linie man verfolgen will. Einige wenige Ausnahmesongs waren zum Teil umstritten, zum Beispiel Hinter der Kurve – jetzt das Eröffnungsstück der Platte.
Das war in meinem Original so ein Velvet Underground-artiger, sehr monotoner Popsong. Nachdem das bandmäßig bearbeitet worden war, war das ein ziemlich artifizielles, komplexes Ergebnis. Da hatte ich am Anfang das Gefühl, dass wir da was machen, was wir eigentlich gar nicht sind. Aber dieses Gefühl tritt bei mir ziemlich schnell ein und da muss man auch kritisch sein. Man neigt dazu, doch so immer ein bisschen im Althergebrachten zu verharren – und jetzt ist das Stück einer meiner Lieblingslieder auf der Platte.
Knut Stenert sieht Die Ekstase der Möwen als direkte Weiterentwicklung des Vorgängers, Himmel für alle, allerdings hat sich das Klangspektrum deutlich in die elektronische Richtung erweitert – eine Facette, die dem Samba-Repertoire gut steht, ohne den Sound essentiell zu verändern oder gar zu verfremden. Denn die musikalische Devise bei Samba heißt nach wie vor „Hauptsache, Handarbeit“ – schließlich lässt sich das auch live immer noch am besten umsetzen.
Wir haben natürlich auch so ein Soundmodul dabei und können bestimmte Keyboards, Geräusche und Sounds abrufen. Aber das Fundament ist nach wie vor Gitarre, Bass, Schlagzeug. Dieses Rumgespiele mit Laptops und Sounds, die im Hintergrund ablaufen, finde ich etwas ermüdend. Man hat das Gefühl, dass man nicht selber die Musik macht, sondern sich in ein schon vorhandenes musikalisches Konzept einfügen muss. Und wenn man direkt live spielt, ohne elektronische Unterstützung, ist man Dirigent der eigenen Sache.
Die Idee zum Albumtitel hatte Stenert übrigens bei einem Fototermin an den Hamburger Landungsbrücken. Damit die Fotos nicht zu langweilig aussehen, wollte man mit ein bisschen Brot Vögel anlocken – was zwar bestens funktionierte, aber sofort den Zorn sämtlicher Imbissbudenbesitzer am Platz heraufbeschworen hat. Wenn man Möwen füttert, würde man sie nie wieder los, so die einhellige und lautstark kundgetane Befürchtung. Immerhin hat die Begebenheit offenbar auf sehr nachdrückliche Weise einen Eindruck von der Ekstase der Möwen vermittelt:
Das war ein ganz schönes Bild, wie die Möwen sich so zusammenballen und laut anfangen zu schreien und Forderungen zu stellen. Das gab‘s auch in dem Film „Findet Nemo“ ganz plastisch dargestellt, da haben die Möwen sich immer im Schwarm auf irgendwas gestürzt und „Meins! Meins! Meins!“ gerufen. Sie waren also in gewisser Weise die hässliche Fratze des Kapitalismus. Und sie sind ja mittlerweile auch die Population auf den Müllbergen und eben nicht mehr der Vogel, den man mit Meer und Romantik verbinden kann. Deswegen finde ich, die Möwe ist ein ganz ambivalentes Bild über eine Gesellschaft im Zerfall oder Veränderung oder im Aufbau. Und außerdem auch in gewisser Weise die Absage an die Schwarmintelligenz.
Und letztlich ist das auch genau das, was Samba mit Die Ekstase der Möwen tun – ein klares Nein aussprechen zu dem, was alle machen. Stattdessen feiern sie mit ihren Songs die Intelligenz des Einzelnen und halten das „Ich“ im „Wir“ hoch. Eine schönere Ambition für Popmusik kann es eigentlich nicht geben.