Präsidialsystem unter Erdogan
Eine neue Verfassung in der Türkei würde die Macht des Staatspräsidenten Erdogan weiter vergrößern. Ministerpräsident Binali Yildirim würde entmachtet und Recep Tayyip Erdogan als amtierender Staatschef auch Vorsitzender der Regierung.
Im Zuge dessen könnte Erdogan dann nicht nur Minister ernennen und abwählen, sondern auch das türkischen Parlament auflösen. Neben der gefestigten Rolle als Oberbefehlshaber der Armee, kann der Präsident außerdem bis zur Hälfte der obersten Richter selbst bestimmen.
Es käme zur völligen Gleichschaltung. Möglichkeiten für Checks and Balances fehlen. – Kristian Brakel, Direktor der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul
Auch die Trennung vom Amt des Präsidenten und seiner Partei würde sich ändern. Nachdem Präsident Erdogan 2014 per Direktwahl zum Staatsoberhaupt gewählt wurde, musste er aus seiner ehemaligen Partei, der AKP, im Zuge der Amtsübernahme austreten. Dort war er als Parteichef und Ministerpräsident tätig.
Die neue Verfassung macht einen solchen Schritt nicht mehr notwendig und ermöglicht eine Rückkehr Erdogans als Parteichef der AKP.
Stabilität als Ziel nach Militärputsch
Seit dem Putschversuch in der Türkei vom 15. und 16. Juli 2016 regiert Erdogan per Dekret im Ausnahmezustand. Jene Dekrete haben Gesetzeskraft und werden nachträglich vom Parlament bestätigt. Der Ausnahmezustand wurde Anfang des Jahres bis April 2017 verlängert. Befürworter der neuen Verfassung sehen die Änderungen als Stabilitätssicherung.
Erdogan geht es darum, den Status quo verfassungsmäßig festzuhalten. – Kristian Brakel
Unterstützung der Partei MHP reicht nicht
Um die derzeitige Verfassung zu ändern, benötigen die AKP und Erdogan eine Mehrheit von zwei Dritteln, was angesichts der aktuellen Stimmverteilung eher unwahrscheinlich ist. Selbst mit den vereinten Stimmen der AKP und der mitunter reformbefürwortenden Partei MHP kämen beide nur auf 64,9 Prozent der Stimmen im Parlament.
Realistischer ist daher eine Drei-Fünftel-Befürwortung der Reform. In diesem Fall muss die Entscheidung durch ein Referendum vom türkischen Volk getroffen werden. Diese Befragung soll Anfang des Sommers 2017 durchgeführt werden, wobei eine einfache Mehrheit genügt. Ein absehbares Ergebnis gibt es noch nicht.
Kristian Brakel, Direktor der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, schildert im Gespräch mit detektor.fm-Moderator Alexander Hertel mögliche Auswirkungen der Verfassungsänderung.