Bei den Parlamentswahlen am gestrigen Sonntag musste die islamisch-konservative Partei AKP mit einem Ergebnis von 41 Prozent knapp neun Prozentpunkte einbüßen. Die Regierungspartei verliert damit die absolute Mehrheit. Überraschender Gewinner dieser Wahl ist die pro-kurdische, linksgerichtete Partei HDP. Sie hatte es sich zum Ziel gemacht, die hohe 10 Prozent Sperrklausel zu überwinden und als vierte Macht ins Parlament einzuziehen. Mit 13 Prozent der Stimmen kann sich die Partei sogar über 80 Sitze im Parlament freuen.
Zweitstärkste Kraft ist die laizistische, Mitte-Links ausgerichtete CHP. Die nationalistisch-konservative MHP kommt auf knapp 16%. Die 86 Prozent Wahlbeteiligung zeigen auch: Diese Wahl war wichtig für die politische Zukunft der Türkei.
AKP hatte Zwei-Drittel-Mehrheit angestrebt
Im Vorfeld hatte die AKP laut getönt: Zwei Drittel der Stimmen wolle sie erreichen. Das wären insgesamt 30 Abgeordnete mehr als bisher gewesen. Mit einem Ergebnis von 70 Sitzen weniger muss sich die AKP eingestehen, unrealistisch hoch gestapelt zu haben. Zwar bleibt sie weiterhin stärkste Kraft im Parlament, wie auch Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu kurz nach dem Ergebnis betont.
Dennoch ist das nach 13 Jahren als alleinige Regierungspartei ein schwerer Schlag für die AKP, nicht zuletzt auch für Präsident Erdoğan. Dieser hatte die Wahl indirekt zur Wahl über seine Pläne, ein Präsidialsystem einzuführen, gemacht. Dadurch wären ihm als Staatspräsident umfangreichere Rechte eingeräumt worden. Der jahrelange Alleingang der AKP, die Allüren von Erdoğan und die zunehmende Entfernung von demokratischen Werten gingen vielen AKP-Anhängern zu weit. International wird begrüßt, dass mit dem Ergebnis ein wenig Schwung in die türkische Regierung gebracht wird.
Kurdenpartei erzielt überraschend 13 Prozent
Viele verprellte Regierungsanhänger wurden von der linkspopulistischen HDP mit offenen Armen empfangen. Die ursprüngliche Kurden-Partei hatte im Wahlkrampf quer durch die politischen Lager um Stimmen von Erdogan-Kritikern geworben. Im Kampf gegen die absolute Mehrheit der AKP war die teilweise linksradikale Partei von ihren kurdischen Wurzeln ein Stück weit abgerückt. Sie versteht sich nun als Vertretung von Minderheiten in der Türkei. Der Plan ging auf – mit knapp 13 Prozent nahm die HDP deutlich die Zehn-Prozent-Hürde. Und das, obwohl es der Oppositionspartei im Wahlkampf schwer gemacht wurde. Noch letzte Woche waren bei einem Bombenanschlag auf eine Wahlkampfveranstaltung der HDP drei Menschen gestorben. Besonders in Fragen des Kurdenkonflikts liegen auf der neuen Kraft im Parlament große Hoffnungen.
Koalitionsbildung: Verhaltenes Schweigen
Der Wahlkampf hatte zwischen Parteien einer großen Schlammschlacht geglichen, Politiker wetterten wüst gegeneinander. Hilft alles nichts: Jetzt muss eine Koalition her. Bisher gibt es keine offiziellen Gespräche oder Angebote. Die AKP muss den Balanceakt schaffen, vor den Wählern ihr Gesicht zu wahren, sich aber auch für Kompromisse zu öffnen.
Findet sich innerhalb einer Frist keine Koalition, würden Neuwahlen anstehen. Auch eine Minderheitsregierung wäre möglich, könnte die AKP genug Unterstützer bei der Opposition werben. Es bleibt spannend in der Türkei – einen Kurswechsel muss es geben: in welche Richtung, ist nun die nächste Frage.
Über das Wahlergebnis, den Erfolg der HDP und die Verlierer der Wahl spricht detektor.fm Moderator Andreas Bischof mit Yaşar Aydın, Sozialwissenschaftler und Türkei-Experte an der Universität Hamburg.
Redaktion: Mona Ruzicka