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Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte im Wahlkampf teilweise bis zu 44 Stunden Sendezeit pro Woche im Fernsehen bekommen. Der Erfolg blieb aus – die Wähler straften die AKP mit über neun Prozentpunkten Verlust ab. Foto: National Election Campaign Banner for PM Recep Tayyip Erdogan – Justice and Development Party – Gaziantep – Turkey – 01 CC BY SA 2.0 | Adam Jones | flickr.com (Ausschnitt)

Parlamentswahlen in der Türkei: Niederlage für AKP

Koalition statt Alleinherrschaft

Bescheidenheit kann man dem türkischen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nicht vorwerfen. Vor der Wahl in der Türkei hatte er der von ihm gegründeten und unterstützten Partei AKP hohe Ziele gesteckt. Eine zwei Drittel Mehrheit sollte sie erreichen und ein Präsidialsystem durchsetzen. Umfragen bestätigten bereits vor der Wahl, dass dieser Größenwahnsinn einige Wähler verprellen würde. Das Ergebnis der Wahl ist für Erdogan und die AKP ein Warnschuss, der sie auf den Boden der Realität zurück bringt.

Bei den Parlamentswahlen am gestrigen Sonntag musste die islamisch-konservative Partei AKP mit einem Ergebnis von 41 Prozent knapp neun Prozentpunkte einbüßen. Die Regierungspartei verliert damit die absolute Mehrheit. Überraschender Gewinner dieser Wahl ist die pro-kurdische, linksgerichtete Partei HDP. Sie hatte es sich zum Ziel gemacht, die hohe 10 Prozent Sperrklausel zu überwinden und als vierte Macht ins Parlament einzuziehen. Mit 13 Prozent der Stimmen kann sich die Partei sogar über 80 Sitze im Parlament freuen.

Zweitstärkste Kraft ist die laizistische, Mitte-Links ausgerichtete CHP. Die nationalistisch-konservative MHP kommt auf knapp 16%. Die 86 Prozent Wahlbeteiligung zeigen auch: Diese Wahl war wichtig für die politische Zukunft der Türkei.

AKP hatte Zwei-Drittel-Mehrheit angestrebt

Im Vorfeld hatte die AKP laut getönt: Zwei Drittel der Stimmen wolle sie erreichen. Das wären insgesamt 30 Abgeordnete mehr als bisher gewesen. Mit einem Ergebnis von 70 Sitzen weniger muss sich die AKP eingestehen, unrealistisch hoch gestapelt zu haben. Zwar bleibt sie weiterhin stärkste Kraft im Parlament, wie auch Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu kurz nach dem Ergebnis betont.

Dennoch ist das nach 13 Jahren als alleinige Regierungspartei ein schwerer Schlag für die AKP, nicht zuletzt auch für Präsident Erdoğan. Dieser hatte die Wahl indirekt zur Wahl über seine Pläne, ein Präsidialsystem einzuführen, gemacht. Dadurch wären ihm als Staatspräsident umfangreichere Rechte eingeräumt worden. Der jahrelange Alleingang der AKP, die Allüren von Erdoğan und die zunehmende Entfernung von demokratischen Werten gingen vielen AKP-Anhängern zu weit. International wird begrüßt, dass mit dem Ergebnis ein wenig Schwung in die türkische Regierung gebracht wird.

Kurdenpartei erzielt überraschend 13 Prozent

Viele verprellte Regierungsanhänger wurden von der linkspopulistischen HDP mit offenen Armen empfangen. Die ursprüngliche Kurden-Partei hatte im Wahlkrampf quer durch die politischen Lager um Stimmen von Erdogan-Kritikern geworben. Im Kampf gegen die absolute Mehrheit der AKP war die teilweise linksradikale Partei von ihren kurdischen Wurzeln ein Stück weit abgerückt. Sie versteht sich nun als Vertretung von Minderheiten in der Türkei. Der Plan ging auf – mit knapp 13 Prozent nahm die HDP deutlich die Zehn-Prozent-Hürde. Und das, obwohl es der Oppositionspartei im Wahlkampf schwer gemacht wurde. Noch letzte Woche waren bei einem Bombenanschlag auf eine Wahlkampfveranstaltung der HDP drei Menschen gestorben. Besonders in Fragen des Kurdenkonflikts liegen auf der neuen Kraft im Parlament große Hoffnungen.

Koalitionsbildung: Verhaltenes Schweigen

Der Wahlkampf hatte zwischen Parteien einer großen Schlammschlacht geglichen, Politiker wetterten wüst gegeneinander. Hilft alles nichts: Jetzt muss eine Koalition her. Bisher gibt es keine offiziellen Gespräche oder Angebote. Die AKP muss den Balanceakt schaffen, vor den Wählern ihr Gesicht zu wahren, sich aber auch für Kompromisse zu öffnen.

Findet sich innerhalb einer Frist keine Koalition, würden Neuwahlen anstehen. Auch eine Minderheitsregierung wäre möglich, könnte die AKP genug Unterstützer bei der Opposition werben. Es bleibt spannend in der Türkei – einen Kurswechsel muss es geben: in welche Richtung, ist nun die nächste Frage.

Über das Wahlergebnis, den Erfolg der HDP und die Verlierer der Wahl spricht detektor.fm Moderator Andreas Bischof mit Yaşar Aydın, Sozialwissenschaftler und Türkei-Experte an der Universität Hamburg.

Parlamentswahlen in der Türkei: HDP zieht ein, AKP verpasst Mehrheit 07:58

Yaşar Aydın - Sozialwissenschaftler und Türkei-Experte an der Universität Hamburg

Sozialwissenschaftler und Türkei-Experte an der Universität Hamburg
Die türkischen Wähler haben Erdogan einen Denkzettel verpasst und haben signalisiert, dass sie ein Präsidialsystem mit Allmacht für den Staatspräsidenten nicht haben wollen.Yaşar Aydın

Redaktion: Mona Ruzicka

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