Selbstverbrennung in Warschau
Anfang des Monats haben in Warschau über tausend Menschen an einem Demonstrationszug teilgenommen. Ziel war es, Anteilnahme am Tod des Regierungskritikers Piotr Szczesny zu bekunden. Denn dieser hatte sich im vergangenen Monat aus Protest gegen die rechts-konservative PiS-Regierung in Warschau selbst angezündet. Der Name der Regierungspartei bedeutet übersetzt „Recht und Gerechtigkeit“, doch die Umsetzung dieser Ziele zweifelt ein wachsender Teil der polnischen Bevölkerung an.
Die Streitkultur wird rauer und Proteste in Polen häufen sich, seit die PiS 2015 zur stärksten Kraft gewählt wurde. Die repressive Regierung muss sich regelmäßig mit Anfeindungen aus der Bevölkerung auseinandersetzen.
Politischer Protest – Radikaler aufgrund extremer Umstände?
Zu dem Vorfall im Oktober jedoch hielt sich die Regierung größtenteils bedeckt. Dennoch stellt sich die Frage, inwiefern sowohl zunehmende staatliche Repression als auch die Strukturen digitaler Massenmedien zu heftigeren Protestaktionen beitragen. Denn um im Internet gehört zu werden, muss man oft immer neue Grenzen überschreiten.
Das hat ja auch sehr viel mit gesellschaftlichen Aufmerksamkeitsmöglichkeiten zu tun. Und eines ist klar – und das hat auch Pegida wieder wunderbar gezeigt: Dass Tabubrecher Aufmerksamkeit erregen. – Piotr Kocyba, Experte für Protestbewegungen in Deutschland und Polen
Welche Verbindungen bestehen zwischen radikalen Protestformen und der Verrohung der politischen Debatte? Und welche Folgen hat der Fall in Polen? Darüber sprechen Prof. Dr. Dieter Rucht und Piotr Kocyba in diesem Beitrag. Rucht ist Vorstandmitglied am Institut für Protest- und Bewegungsforschung, Kocyba forscht zum Thema politischer Protest in Polen und Deutschland an der Technischen Universität Chemnitz.
Redaktion: Julia Rosner
Beitrag zum Nachlesen
Vergangenen Monat hat sich in Polen ein Mensch selbst verbrannt. Fest steht, dass es sich nicht einfach nur um einen Selbstmord handelt. Dieser Suizid war politisch motiviert. Piotr Szczęsny wählte einen öffentlichen Platz mitten in der Innenstadt von Warschau. Er hinterlässt ein Manifest, in dem er an die Bevölkerung appelliert, sich nicht durch die Regierung täuschen zu lassen. Er möchte seine Tat als Ausdruck der Verzweiflung über die gegenwärtige politische Situation in Polen verstanden wissen und beruft sich auf seine Liebe zur Freiheit. Dieter Rucht ist Vorstandsmitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung und sagt über die Motive:
Wenn man diesen Schritt tut oder wagt, dann ist es nur noch schiere Verzweiflung. Meistens geht dem voraus, dass die Betreffenden schon auf allen möglichen Kanälen versucht haben, sich zu wehren, ihr Los in irgendeiner Weise zu bessern. All das hat nicht geklappt, und dann bleibt noch ein Mittel. Es ist nicht das Mittel der Problemlösung, aber es ist ein letztes Fanal und das drastischste Fanal das überhaupt ein Mensch setzen kann. Nämlich „Ich verbrenne mich und setze ein Zeichen, dass zumindest die Nachwelt aufgerüttelt wird und über mich oder mein Problem nachdenken muss.“
Der Fall schockiert. Mitten in Europa sieht ein Mensch kein anderes Mittel mehr, als diese extreme Art der Demonstration. Der Akt der Selbstverbrennung ist allerdings nicht neu. Bereits im 18. Jahrhundert zündeten sich religiöse Gruppierungen aus Widerstand gegen die herrschende Politik kollektiv an. Seit den 60ern werden regelmäßig Protestsuizide von tibetischen Mönchen aus Auflehnung gegen die Unterdrückung durch das chinesische Regime registriert. Und auch die arabische Revolution begann 2011 damit, dass sich ein Tunesier selbst anzündete. Die konkreten Motive sind zwar unterschiedlich, aber alle eint ein Wille: Es geht darum, die gegenwärtigen politischen Verhältnisse anzuprangern. Vor diesem radikalen Schritt gibt es natürlich auch andere Mittel, sich aufzulehnen.
Das beginnt mit dem zivilen Ungehorsam, dass man eben willentlich, aber explizit gewaltfrei bestehende Gesetze übertritt und glaubt dies tun zu können oder zu müssen, im Namen einer höheren Legitimität, also eines höheren Rechts. Man kann natürlich auch ein Stück weiter gehen und nicht nur Gesetze missachten, sondern auch die Integrität anderer Menschen missachten, zum Beispiel durch politische Gewalt. Das ist in moderaterer Form noch möglich in Form von physischen Konfrontationen mit der Polizei im Rahmen von Demonstrationen. Das kann aber reichen bis zum politischen Mord, etwa durch Terroristen.
Das Ziel ist in jedem Fall, Aufmerksamkeit in der Gesellschaft zu erlangen. In Warschau zeigte die Regierung allerdings kaum eine Reaktion auf den Vorfall. Dr. Piotr Kocyba forscht an Protestbewegungen in Polen und Deutschland an der Technischen Universität Chemnitz und beobachtet das Verhalten der Regierung.
Man könnte ja nämlich zum Einen der Regierung vorhalten, dass sie das Ganze verschweigen möchte. Man könnte der Regierung vorhalten, dass obwohl der Akt des Selbstverbrennens anders intendiert war, aber dass diese Verantwortung dann quasi der Opposition in die Schuhe geschoben wird. Gleichzeitig ist es ja so, dass auch die Weltgesundheitsorganisation darauf hinweist, dass man über solche Akte der Selbstverbrennung aus politischen Gründen nicht zu viel berichten sollte, weil es natürlich Nachahmer provozieren könnte.
Fakt ist, dass sich nicht nur in Polen der Ton in der politischen Debatte verschärft. Es geschieht vor allem dort, wo Populisten ins Rampenlicht oder gar in die Regierung drängen. Immer lauter werden ehemalige Tabus gebrochen, und infolgedessen zeichnen sich auch heftigere Proteste ab. Allerdings beschwört nicht nur der rohere politische Ton extremere Formen des Widerstandes herauf. Auch scheint es, als ob die tiefe Spaltung der Gesellschaft ihren Teil dazu beiträgt, so Kocyba.
In Polen haben wir es seit vielen Jahren mit einem extremen Graben zwischen den unterschiedlichen politischen Lagern zu tun, der auch durch die Gesellschaft geht, dieser Riss. Das führt teilweise zu einem Gefühl, dass nichts anderes mehr hilft außer die Extremform des Aufmerksammachens. Und wenn man jetzt eine Parallele ziehen möchte: In Deutschland ist der Riss Gott sei Dank nicht so tief. Aber wenn man bei uns vor die Haustüre guckt, in Sachsen und auf die Pegida-Demonstrationen schaut und auf die Gewaltspirale, die sich infolge der Pegida-Demonstrationen in Sachsen etabliert hat, wenn es um fremdenfeindliche Übergriffe geht, dann zeigt das ganz deutlich, das eine politisch-gesellschaftliche Spannung auch zu Formen des Protests führt, die wir eigentlich für wenig zivilisiert halten.
Es sind also auch die wachsenden Differenzen zwischen den politischen Lagern, die zu einer Verrohung beitragen. Daneben spielen aber auch die Medien eine Rolle. Inwiefern trägt auch die Art, in der Nachrichten heute produziert und auch konsumiert werden, dazu bei, dass Proteste ins Extreme schwenken? In der Nachrichtenflut auf Facebook, Twitter und Co. wird es ja zunehmend schwieriger, mit der eigenen Botschaft herauszustechen. Womöglich klickt der Leser eher auf eine Meldung über große, lautstarke Proteste als über einen offenen Brief mit demselben Anliegen. Wer also gehört werden will, muss auffallen. Das meint auch Piotr Kocyba.
Das hat ja auch sehr viel mit gesellschaftlichen Aufmerksamkeitsmöglichkeiten zu tun. Und eines ist klar, und das hat auch wieder Pegida wunderbar gezeigt: Dass Tabubrecher Aufmerksamkeit erregen. Und hier die Medien das Medium sind über die quasi das Tabubrechen publik gemacht wird. Aber das Publikum interessiert sich ja auch dafür auf der anderen Seite. Das heißt wir habe eine Gesellschaft, in der es auch durchaus möglich ist, politisches Kapital daraus zu schlagen, dass man gewisse Grenzen überschreitet.
Der politisch motivierte Selbstmord ist der letzte, extremste Weg des Protests. Es ist verheerend, wenn Menschen keine andere Möglichkeit des politischen Ausdrucks mehr sehen. Zwar erleben wir zunehmend eine heftiger und lauter geführte Debatte zwischen den politischen Lagern. Das begünstigt den Glauben, dem eine noch lautere Form des Protest entgegensetzten zu müssen.
Und auch moderne Massenmedien und social Media lenken den Blick vor allem auf auffallende Bilder und markante Aussagen. Allerings handelt es sich bei dem Protestsuizid in Polen zunächst noch um den Fall eines Einzeltäters. Denn auch wenn er kurz Aufmerksamkeit erreicht, bleibt die nachhaltige Wirkung auf die Politik fraglich.