Wissenschaftlerin durch und durch – so hätte man Rita Süssmuth bis in die achtziger Jahre am besten beschreiben können. Die gebürtige Wuppertalerin studierte Geschichte und Romanistik in Tübingen, Münster und Paris, promovierte, dozierte.
Was sie wurmte, war die Zusammenarbeit mit der Politik. Als Politik-Beraterin ging es ihr einfach so langsam, mit der Durchsetzung der wissenschaftlichen Empfehlungen. Was also tun? Sich von allem abwenden? Die Frage blieb offen, es sollte sowieso anders kommen: mit einem Telefonanruf aus dem Kanzleramt in Bonn.
Plötzlich Ministerin
Völlig unerwartet, so erzählt es Süssmuth, kam der Anruf des Bonner Sekretariats: Helmut Kohl bitte um ein Gespräch. Ebenso überraschend der Inhalt des Dialogs.
Süssmuth leitete erst seit drei Jahren das Institut „Frau und Gesellschaft“ in Hannover. Ein Institut, das in der Anfangszeit für Kritik sorgte. Die wissenschaftliche Anerkennung musste man sich verdienen. Denn: Das Institut befand sich unterm CDU-Finanzdeckel. Und FeministInnen erwarteten damals alles, nur keine frauenfreundlichen Ergebnisse. Es gab also noch einiges zu tun, in der Rolle als Wissenschaftlerin. Und doch sagte Rita Süssmuth zu. Von 1982 – 1985 wurde sie Nachfolgerin von Heiner Geisler als „Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit“ – als Parteimitglied der CDU.
Alles, nur nicht konservativ
Rita Süssmuth setzte sich in den drei Jahren als Ministerin ebenso für die Integration von AIDS-Erkrankten als auch für Gesetze, die noch heute auf der Agenda stehen. Frauenquote und Einwanderungspolitik sind die entscheidenden Stichworte. Während Manuela Schwesig Anfang des Monats die Frauenquote in Großunternehmen feierte, ist es bis heute zu keinem Einwanderungsgesetz gekommen. Warum?
Weil wir befürchten, es kommen zu viele. […] Die weltweite Wanderung aufgrund von Krieg, Gewalt, Verfolgung und extremer Armut – damit fühlen wir uns überfordert. – Rita Süssmuth
In der Einwanderungsdebatte sind 15-Jahre-alten Thesen von Süssmuth mit Aussagen aus der SPD heute zu vergleichen. Die CDU-Politikerin spricht sich für ein Punkte-System nach kanadischem Modell aus. Ob es nicht irgendwann den Punkt gab, an dem sie ihre Parteizugehörigkeit bereut hat?
Eines war mir klar: Da gab es eine Menge zu tun. […] Ich bin in die Politik gegangen, um Veränderungen herbeizuführen […] und ich habe gesehen, was ich von anderen Parteien lernen und in der eigenen umsetzen kann. – Rita Süssmuth
„Das Gift des Politischen“
Die Amtszeit als Ministerin liegt mittlerweile rund 30 Jahre zurück. Was folgte, war das Amt der Bundestagspräsidentin, dass die CDU-Politikerin bis 1998 ausübte. Nach wie vor standen der Kampf um die Gleichberechtigung von Frauen und die Integration von Flüchtlingen an erster Stelle.
In ihrem Buch „Das Gift des Politischen“, das nun zur Leipziger Buchmesse erschien, findet Süssmuth klare Worte. Die Politik sei aufgrund ihrer Intransparenz und Verlogenheit „vergiftet“ und würde durch unmutige Intransparenz statt Offenheit für Misstrauen in der Gesellschaft sorgen. Daher sei eine „Maulwurf-Strategie“ notwendig: Um seine Ziele durchsetzen zu können, müsste „unter der Erde“ gearbeitet werden. Mit anderen Worten: Offizielle Anerkennung der Niederlage, unterschwellig weitere Kampf für die Rechte von Frauen. Was Politikern fehle, sei der Mut dazu, sagt Süssmuth.
Das Synonym „Gift“ bezieht die Autorin auch auf die Bevölkerung. Diese hätte verlernt, sich solidarisch zu verhalten. Stattdessen bestimme das „Wir“ das „Ich“. Über Süssmuths Kritik an Politik und Gesellschaft hat detektor.fm-Redakteurin Lisa Kettwig mit der Wissenschaftlerin, Politikerin und Autorin gesprochen.