Der fulminante, wirtschaftliche Aufstieg der Volksrepublik hat eine Kluft zwischen Arm und Reich heraufbeschworen, die immer weiter auseinander klafft. Und die ist nicht die einzige Herausforderung, die China zukünftig meistern muss. Was die chinesische Gesellschaft bewegt, erfahren Sie jetzt:
Die Gegensätze in China nehmen immer weiter zu – und damit auch das Potential für soziale Unruhen. Erleben wir in China vielleicht bald einen „chinesischen Frühling“ nach arabischem Vorbild? Oder kann die Regierung die Brände noch rechtzeitig löschen?
Franziska Hendreschke wirft in unserer China-Reihe heute einen Blick auf die Gesellschaftspolitik der Volksrepublik:
Der komplette Audio-Beitrag zum Nachlesen:
Sie ist reich und sie ist arm, sie ist fortgeschritten und auch unterentwickelt, sie ist konsumorientiert und genügsam – Chinas Gesellschaft könnte heterogener nicht sein, könnte gegensätzlicher nicht sein. Und: Chinas Gesellschaft könnte für uns kaum mit mehr Fragezeichen übersehen sein. Eigentlich ganz logisch.
Denn für die Chinesen ist sie es auch. So etwas wie Gesellschaft gab es im Reich der Mitte eigentlich nie, weiß Stefan Kramer, Professor für chinesische Gesellschaft an der Universität Leipzig:
Es gibt keinen traditionellen, chinesischen Begriff für Gesellschaft. Es gibt nicht einmal einen Begriff für Gemeinschaft in dem Sinne, weil die Chinesen sich als alles verstanden haben, als Kultur. Und alles, was nicht Chinesen waren, war auch nicht Kultur und auch nicht der Rede wert. Als das dann mit dem Kolonialismus nach China kam, hat man dann versucht, dass aus dem Europäischen ins Chinesische zu übersetzen und nun gehen alle Wissenschaftler hin und vor allem auch die Politik und sagen, naja, das ist nun dasselbe, nun gibt es in China auch eine Gesellschaft. Das gibt es in gewisser Weise auch, weil die Institutionen geschaffen worden sind, es ist ein Staat geschaffen worden nach dem Völkerrecht und alles was das so dran hängt.
Institutionell gesehen hat China alles übernommen, was die modernen Staaten etabliert haben. Gehandhabt wird das ganze aber anders. Denn auch die chinesischen Institutionen unterliegen dem traditionellen chinesischen Hierarchieverständnis. Staatsoberhäupter müssen deshalb auftreten wie Väter. Genauso wie es Chinas Kaiser vor hunderten von Jahren getan haben.
Dieses Denken habe sich seit der Zeit der großen Dynastien nicht wirklich geändert, meint Petra Häring-Kuan. Die Sinologin ist seit 1975 regelmäßig in China. Gemeinsam mit ihrem Ehemann dem Chinesen Yu-Chien Kuan verfasste sie mehrere Bücher über die chinesische Gesellschaft und deren Lebensverständnis:
Petra Häring-Kuan: Ich sehe eigentlich heute in China auch eine neue Dynastie, die die Regierung führt. Früher war das ein Kaiser, die Ming-Dynastie oder die Qing-Dynastie und heute ist es eine neue Dynastie, die nicht von einem Kaiser, sondern von einer Partei geführt wird. Und diese Partei nennt sich kommunistisch. Aber im Grunde genommen, finde ich, dass dieses alte Denken, dieses zentralistische Denken noch immer in den Köpfen der Menschen vorhanden ist und das wird sich auch nur ganz langsam ändern.
Schon heute diskutiere ganz China täglich über den bevorstehenden Machtwechsel und über die Führungsqualitäten der potentiellen Regierungschefs. Dabei steht eine Frage im Vordergrund: Wie wird der Neue unser Land führen? Angesichts der zahlreichen gesellschaftspolitischen Krisenherde im Land scheint diese Frage auch durchaus berechtigt.
Die Schere zwischen Arm und Reich klafft in China immer weiter auseinander. Grund dafür ist auch das extreme Gefälle zwischen Land- und Stadtbewohnern. Über 600 Millionen Chinesen leben heute immer noch auf dem Land. Sie haben kaum von dem immensen Wachstum profitiert, leben zum Teil wie im Europa vor 200 Jahren – ohne Elektrizität.
Um das zu ändern, will die Regierung bereits in den kommenden zehn Jahren 100 Millionen Menschen vom Land in die Stadt umsiedeln. Über hundert neue Millionenstädte sollen entstehen – mit neuen Straßen, Kraftwerken und Wasserversorgung. Dieser Luxus reizt die meisten chinesischen Bauern anfangs. Gern ziehen sie in die neuen modernen Großstädte. Das eigentliche Problem kristallisiert sich erst später heraus, wie Stefan Kramer erklärt:
Die sind relativ zufrieden auf dem Lande. Das liegt daran: zwar Armut, aber sehr stabile soziale Beziehungen. Und die brechen halt in den Städten weg. Das sieht man auch in der Gegenwart schon. Nicht nur Bauern, die vom Land kommen, auch hochgebildete Jugendliche, die in die Städte strömen, studieren und dort Jobs suchen, sich einfach bessere Perspektiven erhoffen und diese häufig auch erlangen. Denen geht es trotzdem richtig schlecht, weil alle diese sozialen Beziehungen weggebrochen sind. Die suchen sich dann Alternativen: religiöse Gemeinschaften, die einen riesigen Zulauf haben in China.
Nicht nur der Luxus treibt die Landbewohner in die Städte, sondern auch der Wunsch nach sozialer Absicherung. Noch heute herrscht in China das sogenannte Hukou-System. Das Hukou ist ein Meldesystem aus Maos Zeiten. Um sich in einer Stadt niederzulassen braucht jeder Chinese eine offizielle Registrierung. Bauern können nicht ohne weiteres in die Städte ziehen. So will die Regierung eine unkontrollierte Landflucht verhindern.
Doch mit den verschiedenen Hukou gehen auch verschiedene soziale Leistungen einher. Während die Stadtbevölkerung auf Kranken- und Rentenversicherung zurückgreifen kann, haben Bauern keinen Anspruch darauf. Und das ist nicht alles, wie Stefan Kramer berichtet:
Auf gute Schulen in den Städten kommt man nur, wenn man auch ein hukou in diesen Städten hat. Deswegen gehen jetzt immer mehr Menschen hin und versuchen an Riesen-Mengen an Geld zu kommen, um sich irgendwo eine kleine Wohnung in den Städten anzuschaffen. In Peking werden alte Kellerräume zu horrenden Preisen verkauft, weil die von Leuten vom Lande gekauft werden, die irgend sowas wie eine Wohnung in der Stadt haben müssen, in die sie nie im Leben einziehen würden, nur um die Berechtigung zu haben, ihre Kinder dann in diesem Viertel dann in die Schule schicken zu dürfen. Und das ist die Fahrkarte in ein besseres Leben.
Für diese Fahrkarte zahlen chinesische Eltern einen hohen Preis – und oftmals ein Einzelticket. In China gilt auch heute noch eine Ein-Kind-Politik. Diese staatliche Familienplanung wurde vor 30 Jahren eingeführt, um dem explosionsartigen Bevölkerungswachstum der Volksrepublik entgegen zu wirken. Paare in der Stadt dürfen demnach ein Kind haben, Eltern auf dem Land zwei.
Die Folgen dieser Regulierung sind schon heute erkennbar. Bereits in acht Jahren wird China das Land mit den meisten Senioren sein. Eine völlig neue Hrausforderung für die Volksrepublik, wie Petra Häring-Kuan weiß:
Bis heute ist es so, dass, wenn sie Menschen alt werden, sie bei ihren Kindern leben. Das wird in Zukunft nicht mehr gehen und insofern entstehen überall im Land jetzt auch Altersheime – das ist eine ganz neue Problematik, die da jetzt auftaucht. Und auch was die heutige Bildungspolitik betrifft, also dieser enorme Druck, der auf den Kindern lastet. Das kommt teilweise auch dadurch, dass man eben nur ein Kind hat und alle Hoffnungen eben auf dieses Kind projiziert. Also da sind schon gewaltige Probleme im Land.
{info_1} Hinzukommt ein immer stärkeres Geschlechterungleichgewicht. Auch dies ist die Folge der Ein-Kind-Politik. Bereits heute leben in China 15 Millionen mehr Männer als Frauen. Diese Diskrepanz hat verheerende Folgen – nämlich Menschenhandel. Um Ehefrauen zu finden, werden Frauen aus Südostasien eingekauft, sogar entführt.
Die Regierung versucht daher der Entwicklung entgegenzuwirken und führte teilweise eine Zwei-Kind-Politik ein. Paare die selbst Einzelkinder sind, dürfen heute schon zwei Kinder haben. Nichtsdestotrotz die Regulierungen sind nötig, wie Stefan Kramer meint:
China hat sich innerhalb eines halben Jahrhunderts – trotz der dann eingeführten Ein-Kind-Politik – fast verdreifacht. Wenn man die Welt in 50 Jahren noch ernähren will, muss man nicht in China, sondern global darüber nachdenken.
Wie genau das aussehen soll, weiß er nicht. Und die chinesische Regierung weiß es wohl ebenso wenig. Und das obwohl Chinas Spitze in anderen Belangen scheinbar bereits einen Schritt vor dem nächsten macht. Zum Beispiel wenn es um die Proteste im Land geht. Sie werden niedergeschlagen, als wären sie bereits der Startschuss für einen chinesischen Frühling, analog den Bewegungen im arabischen Raum. Doch Experten geben Entwarnung. Wie auch Buchautorin Petra Häring-Kuan:
Ich glaube nicht, dass es zu einem chinesischen Frühling kommt, weil China in einer ganz anderen Situation steht. Es geht den Menschen in China einfach viel zu gut, als dass sie das, was sie jetzt erreicht haben, in Frage stellen. Auch die bäuerliche Bevölkerung zum Beispiel ist eigentlich mit ihrer Situation zufrieden. Die Bauern zahlen keine Steuern, also es geht ihnen schon sehr gut und gerade in der bäuerlichen Bevölkerung hat die Partei immer noch ein sehr hohes Ansehen.
Was nicht zuletzt darin liegt, dass die Kommunistische Partei in den vergangenen Jahren Millionen von Menschen aus der Armut geholt hat. Allein zwischen 1981 und 2001 sank der Anteil der unter dem Existenzminimum lebenden Bevölkerung von 53 auf 8 Prozent. Heute ist in China keiner ärmer als vor zehn Jahren. Das sättigt und befriedet. Was macht die Partei dann so nervös? So nervös zum Beispiel, dass sie das chinesische Wort für „Jasmin-Revolution“ im Internet bereits auf den Index setzte, Netz und Medien kontrolliert und zensiert. Stefan Kramer:
Nun ist das Problem, dass an solchen Entscheidungsstellen häufig immer noch ziemlich viele alte Männer sitzen, die teilweise nie im Ausland waren. Die teilweise überhaupt keine Ahnung haben, wie China in der Welt wahrgenommen wird, sich auch gar nicht vorstellen können, wie die Welt jenseits ihrer eigenen Wahrnehmungswelt funktioniert. Das ist eine Generationenfrage – hoffe ich.
Ob sich in Chinas Politik und in Chinas Gesellschaftspolitik zukünftig etwas tut, wird sich zeigen. Es wäre dem Land zu wünschen, dass eine junge Generation China nicht nur wirtschaftlich, sondern gesellschaftlich auf den richtigen Kurs bringen kann.