Staatsumbau in rasantem Tempo
Verhaftungen, Entlassungen, Gesetzesänderungen: Im Eiltempo geht der Präsident nach dem gescheiterten Putschversuch gegen die vermeintlichen inneren Feinde der Türkei vor. Knapp 3.000 Soldaten und Offiziere sind im Zuge der „Säuberungswelle“ verhaftet worden, dazu genauso viele Zivilisten. Außerdem will Erdoğan die Verwaltung von den Anhängern seines Widersachers Fethullah Gülen „säubern“ lassen. Zahlreiche Richter und Staatsanwälte hat es bereits getroffen.
Gülen, ein früherer Vertrauter Erdoğans, gilt als stärkster Widersacher des Präsidenten. Aus seinem US-Exil aus steuert der Prediger angeblich tausende Anhänger, die die türkische Verwaltung unterwandert hätten. Erdoğan beschuldigt Gülen auch, den Putsch zu verantworten. Dieser streitet eine Beteiligung rundherum ab und beschuldigt stattdessen Erdoğan einer Inszenierung.
Der Traum vom Präsidialsystem in der Türkei
Auch weil dieser den Putsch öffentlich als „Geschenk Allahs“ bezeichnet hat und ihn offensichtlich zum Ausbau seiner Macht nutzt. So ist das Militär endgültig entmachtet worden und der Staatsapparat kann nach Erdoğans Gutdünken umgebaut werden. Auch eine Wiedereinführung der Todesstrafe will Erdoğan nicht ausschließen. Sie würde wohl vorrangig die Putschisten treffen.
Und so wachsen innerhalb und außerhalb der Türkei die Sorgen, Erdoğan nutze den Putsch vor allem zur Umsetzung seines seit Jahren verfolgten Ziels, die Türkei zu einem maßgeschneiderten Präsidialsystem umzubauen. Mit ihm an der Spitze und niemandem, der ihm gefährlich werden kann. Erdoğan fühlt sich nun stark genug, dies durchzusetzen und selbst Mahnungen der EU und der USA einfach zu ignorieren.
Ich fürchte, dass es im Grunde darauf hinauslaufen wird, dass die Macht der Regierung gefestigt wird. – Kristian Brakel, Heinrich-Böll-Stiftung Istanbul
Nach dem Putschversuch in der Türkei sind also noch viele Fragen offen. Wurde tatsächlich alles inszeniert, oder ist das nur eine Verschwörungstheorie? Und wie geht es nach der Säuberungswelle weiter in der Türkei? Darüber hat detektor.fm-Moderatorin Karolin Döhne mit Kristian Brakel gesprochen. Er leitet das Türkei-Büro der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung und lebt in Istanbul.