Freispruch zweiter Klasse
Einen Völkermord, also die systematische Auslöschung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, konnte das Gericht in beiden Fällen nicht erkennen. Kroatien hatte seine Klage bereits 1999 eingereicht und auf die Besetzung des Landes durch serbische Truppen zwischen während des Kroatienkrieges 1991 und 1995 bezogen. Serbien wiederum beschuldigte das Nachbarland in seiner 2010 eingereichten Klage, während einer Gegenoffensive 1995 systematisch serbische Minderheiten vertrieben und ermordet zu haben.
Dass die Länder in beiden Zeiträumen Gräueltaten an der Zivilbevölkerung verübt haben, erkannte auch das Gericht. Diese Kriegsverbrechen seien aber nicht systematisch genug gewesen, um den Tatbestand des Genozids zu erfüllen, erläutert Dušan Reljić von der Stiftung für Wissenschaft und Politik.
Es gab Vertreibungen, Morde, etliche Kriegsverbrechen. Aber die Ermordung ganzer Volksgruppen ist so nicht geschehen. Das haben die Richter festgestellt. – Dušan Reljić
Da beide Klagen ausschließlich auf Völkermord lauteten, kam es zum doppelten Freispruch. Vor internationalen Gerichten können die Fälle nun nicht mehr neu aufgerollt werden. Ausschließlich die nationalen Staatsanwaltschaften könnten gegen einzelne Kriegsverbrecher Klage erheben.
Die Justizen in beiden Staaten zeigen bislang aber nur einen bedingten Aufarbeitungswillen. Insgesamt sollen alleine während des Kroatienkrieges bis zu 20.000 Menschen ums Leben gekommen sein. Dem gesamten Jugoslawienkrieg, der bis 1999 andauerte, fielen schätzungsweise 100.000 Menschen zum Opfer.
Die Geschichte des Jugoslawienkrieges in einer Kurzdokumentation von „EuroparlTV“. (05:00 Minuten)
Ende der Prozesse, Beginn der Aufarbeitung
16 Jahre später endet nun der längste Strafprozess in der Geschichte des Internationalen Gerichtshofs. In einem ähnlich gelagerten Verfahren wurde Serbien bereits 2010 vom Vorwurf des gesteuerten Völkermords an den Bosnischen Minderheit freigesprochen. Dabei erkannte das Gericht in dem Fall sogar den Tatbestand des Völkermords, speziell beim Massaker von Srebrenica. Bosnische Serben hatten im Juli 1995 etwa 8.000 muslimische Männer und Jungen aus dem Dorf innerhalb einer UN-Schutzzone entführt und in einem nahe gelegenen Wald hingerichtet. Jedoch entschied der IGH, es gäbe keine hinreichenden Beweise, dass die Regierung in Belgrad die verantwortlichen Freikorps direkt gesteuert hat.
Mit dem heutigen Urteil hat das Gericht seinen letzten Fall im Zusammenhang mit dem Jugoslawienkrieg abgeschlossen. Einige Einzelverfahren laufen noch, etwa gegen die mutmaßlichen Kriegsverbrecher Radowan Karadžić, Ratko Mladić und Goran Hadžić – jedoch vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY), der ausschließlich Verfahren gegen Einzelpersonen führen darf. Mit dem vorausschtlichen Abschluss der ausstehenden Verfahren im Jahr 2016 wird auch dieses Sondergericht aufgelöst. Erst dann kann der lange Aufarbeitungs- und Aussöhnungsprozess zwischen den ehemaligen Feinden auf dem Balkan richtig beginnen.
Über das Urteil, seine Signalwirkung und die Aufarbeitung des blutigen Jugoslawienkrieges hat Moderatorin Doris Helpholdt mit Dušan Reljić gesprochen. Er leitet das Brüsseler Büro der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) und war Anfang der 1990er Jahre selbst als Journalist in Jugoslawien.
Redaktion: Alexander Hertel