Keine neue Verfassung für Chile
Es war ein eindeutiges Ergebnis: 62 Prozent der Chileninnen und Chilenen haben am 4. September gegen den vorgelegten Verfassungsentwurf gestimmt. Dass der Verfassungsentwurf nicht durchkommen könnte, hatte sich in Umfragen schon angedeutet. Doch dass nun im Referendum so viele dagegen gestimmt haben, kommt überraschend. Chile bekommt also keine neue Verfassung — zumindest vorerst nicht.
Ein Jahr lang hatten 154 vom chilenischen Volk gewählte Vertreter und Vertreterinnen an dem Entwurf gearbeitet. Und dann einen Text mit 388 Artikeln vorgelegt. Der Entwurf für die neue Verfassung hatte ambitionierte Pläne für Chile und wollte aus dem Land einen Sozialstaat machen, der die Rechte von Indigenen und Frauen stärkt. Chiles aktuelle Verfassung stammt noch aus der Zeit der Pinochet-Diktatur. Durch sie ist das neoliberale Wirtschaftssystem in Chile gesetzlich verankert. Bildung, Gesundheit, Renten und sogar Wasser sind privatisiert.
Chilenische Gesellschaft tief gespalten
Chiles Präsident Gabriel Boric und seine linke Regierung hatten den Verfassungsentwurf befürwortet — mit Blick auf die Niederlage an der Wahlurne erklärte Boric am Sonntagabend: „Wir müssen selbstkritisch sein“. Für Montag hat der chilenische Präsident alle politischen Parteien in den Präsidentenpalast eingeladen, um die Fortführung des verfassungsgebenden Prozesses zu analysieren. Einen zweiten Anlauf für eine neue Verfassung anzustoßen, wird wohl keine einfache Aufgabe für Boric: Denn die chilenische Gesellschaft ist tief gespalten.
Wie es jetzt in dem lateinamerikanischen Land weitergehen könnte, darüber haben wir mit Sophia Boddenberg gesprochen. Sie arbeitet seit acht Jahren als freie Journalistin in Santiago de Chile. Woran der Verfassungsentwurf in Chile gescheitert ist, das erklärt der Verfassungsrechtler Rainer Grote vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.