Im Winter 1916 ist es soweit: Der deutsche Staat erkennt die ersten Gewerkschaftsverbände offiziell an. Die Anerkennung durch die Arbeitgeberverbände erfolgt zwei Jahre darauf. Den Arbeitgebern fällt das nicht leicht. Sie befürchten Machteinbußen – doch sie müssen. Andernfalls droht, kriegswichtige Produktion ins Stocken zu geraten.
Heute ist in Deutschland noch jeder siebte Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert. Damit liegen wir unter dem europäischen Durchschnitt von 23 Prozent – von skandinavischen Ländern wie Schweden, Finnland oder Dänemark ganz zu schweigen, wo 60 bis 70 Prozent der Arbeitnehmer Mitglied in einer Gewerkschaft sind. Und bei unseren Nachbarn in Frankreich wird traditionell häufiger und heftiger gestreikt.
Gewerkschaften ohne Mitglieder?
Zum Teil liegen diese Unterschiede in den verschieden ausgestalteten Sozialsystemen begründet. So wird in den skandinavischen Ländern zum Beispiel die Arbeitslosenversicherung über die Gewerkschaften organisiert.
Die deutschen Gewerkschaften hingegen kämpfen mit einem zunehmenden Bedeutungsverlust, belegt auch ein neuer Bericht des Instituts der Deutschen Wirtschaft. Grund dafür: Die Sache mit den Trittbrettfahrern. Auch Arbeitnehmer, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind, profitieren von den Tarifabschlüssen. So gesehen besteht gar kein Druck zum Eintritt in eine Gewerkschaft.
David oder Goliath
Verschwinden die Arbeitnehmerverbände also in der Bedeutungslosigkeit?
Die Gewerkschaften müssen sich perspektivisch daran gewöhnen, dass sie neue Antworten finden, auf die Frage: Wie gehen wir mit einer Vielzahl von kleinbetrieblichen Strukturen um? – Martin Behrens, Hans-Böckler-Stiftung
Es lässt sich aber auch gegen die These vom schwächelnden Arbeitskampf in Deutschland argumentieren. Kleine Spartengewerkschaften haben in den letzten Jahren vehement ihre Arbeitsinteressen vertreten. Insbesondere die Vertretungen sogenannter Funktionseliten – Piloten, Lokführer und Ärtzte – haben auf sich aufmerksam gemacht. Und insgesamt steigt die Zahl der Arbeitstage, die in Deutschland bestreikt werden, wieder an.
Bedeutungsverlust oder Neuformierung
Es ist also nicht ausgemacht, in welche Richtung sich die deutsche Gewerkschaftslandschaft in Zukunft entwickeln wird. Sind Spartengewerkschaften das neue Ding? Sind große Branchengewerkschaften zu inflexibel? Über diese Fragen spricht detektor.fm-Moderator Alex Hertel mit Martin Behrens von der Hans-Böckler-Stiftung, der über Arbeitgeberverbände und Tarifpolitik forscht.