Jedem Jüngling eine Waffe
Ein solches Bild von der Schusswaffenkultur in den USA haben in letzter Zeit wieder mehr Menschen – und können darüber nur den Kopf schütteln. Eine sehr deutsche Perspektive, die nicht immer so war: im deutschen Reich des 19. Jahrhunderts gehörten Schusswaffen zum Alltag. Heranwachsende gingen bewaffnet zur Schule, Schusswaffen galten als Statussymbol.
In Deutschland hat sich die Einstellung zu Schusswaffen radikal verändert: Die deutsche Gesellschaft ist weitgehend entmilitarisiert. Dennoch erschüttern immer wieder Amokläufe an Schulen – historisch gesehen noch sehr junge Phänomene – die Öffentlichkeit.
Der Blick auf Schusswaffen mit emotionaler Brille
Die Historikerin Dagmar Ellerbrock forscht seit einigen Jahren zur deutschen und internationalen Waffenkultur. Am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung arbeitet sie derzeit an einem Projekt, dass sich dem emotionalen Zugang zu Waffen und Gewalt nähern will.
Emotionen bündeln Energien, Emotionen strukturieren Perzeptionen vor und Emotionen bedingen und lenken auch die Art und Weise wie ein Akteur sich in soziale Prozesse einfügt. – Dagmar Ellerbrock
detektor.fm-Redakteur Max Heeke stellt das Forschungsprojekt ‚Emotionen, Gewalt und Frieden‘ vor.
Der Beitrag zum Mitlesen
Also wir hatten in Deutschland im 19. Jahrhundert eine Waffenkultur wie wir sie heute aus den USA kennen und da kam es durchaus häufiger, als das heute in der Bundesrepublik der Fall ist, zu Schusswaffenverletzungen. – Dagmar Ellerbrock
Waffen, so die Historikerin Dagmar Ellerbrock, gehörten im 19. Jahrhundert zum alltäglichen Leben im deutschen Reich dazu. Junge Männer gingen mit Messern, Degen und Pistolen in die Schule, Schusswaffen bedeuteten Prestige und der Waffenbesitz war weitgehend unreguliert. Kritisiert wurde die Waffenkultur auch damals schon: Denn es kam immer wieder zu fahrlässigen Verletzungen und Tötungen. Nach dem ersten Weltkrieg, 1928, beschloss der deutsche Reichstag dann ein umfassendes Gesetz über Schusswaffen:
Das Waffengesetz ist eine wichtige Zäsur 1928, und Das Waffengesetz wird in den Grundzügen auch über die verschiedenen Regimewechsel hinweg fortgeführt und das Waffengesetz ist offensichtlich ein wirksames Werkzeug und das emotionale Verhältnis, was eine Bevölkerung zu Waffen empfindet, umzusteuern. – Dagmar Ellerbrock
Historikerin Dagmar Ellerbrock bewertet die Regulierung als wichtigen Schritt in Richtung Entmilitarisierung. Und vergrößert dann sofort den historischen Blickwinkel:
Wobei wir in Deutschland natürlich in einer Situation sind, das wir viele verschiedene Faktoren haben, also wir haben zwei verlorene Weltkriege, von uns angezettelte zumindest der zweite sehr deutlich von uns angezettelte militärische Auseinandersetzung mit desaströsen Gewalterfahrungen. – Dagmar Ellerbrock
Behält man diesen Blick ein wenig bei, sieht man paradoxe Konstellationen am historischen Horizont:
Im 19. Jahrhundert gingen Schüler reihenweise bewaffnet zur Schule und nichts passierte, beleuchtet Wissenschaftlerin Ellerbrock die Vergangenheit, um im Anschluss direkt die Gegenwartsperspektive einzunehmen:
Und gleichzeitig dazu die Kontrasterfahrung, die ich selber als Zeitgenossin habe, dass wir eben Amokläufe zunehmend haben und wir alle mehr oder weniger ratlos davorstehen, was diese Amokläufe anschiebt, was diese Dynamik, diese Eskalation bedingt. – Dagmar Ellerbrock
Genau diese gegensätzliche Situation treibt die Wissenschaftler um Dagmar Ellerbrock an: In ihrem Projekt ‚Emotionen, Gewalt und Frieden‘ untersucht sie die emotionale Beziehung einer Gesellschaft zu Schusswaffen. Denn emotional ist der Umgang mit Waffen immer: Hierzulande diskutieren wir strengere Regeln und bisweilen auch das Verbot von so genannten Killerspielen.
In den USA pochen Schusswaffenbefürworter auf die amerikanische Verfassung, die das Recht auf Selbstverteidigung garantiert. Gegner fordern härtere Regeln besonders für Kinder mit Verweis auf die zahlreichen tödlichen Unfälle. Obwohl Emotionen so sehr mit Schusswaffen verbunden sind, stießen Dagmar Ellerbrock und ihre Kollegen nach eigener Aussage in eine echte Forschunglücke:
Niemand spricht ohne emotionale Einbettung, ohne emotionale Adjektive zu benutzen, also obwohl die Gefühle eigentlich auf den Tisch liegen gibt es keine Forschung zu dieser Verbindung und selbst die Kollegen, die aus den Ländern kamen, wo man viel breiter über Schusswaffe diskutiert als hierzulande, waren hochgradig fasziniert und motiviert, da weiter zu forschen. – Dagmar Ellerbrock
Der Fokus der Wissenschaftler liegt auf der Entstehung von Gewalt. Am Beispiel von Amokläufen wollen sie das Phänomen untersuchen. Gewalt ist keine unveränderliche Tatsache. Gewalt entwickelt sich im sozialen Zusammenspiel verschiedener Menschen. Gewaltprozesse können eskalieren aber auch deeskalieren. Und Emotionen seien der Schlüssel, um Gewalt zu verstehen, so Ellerbrock:
Emotionen bündeln quasi Energie, Emotionen strukturieren Perzeptionen vor und Emotionen bedingen und lenken auch die art und weise wie ein Akteur sich in soziale Prozesse einfügt und insofern ist es wichtig emotionen zu verstehen erstens zu verstehen, wo sie im sozialen Prozess relevant werden und zweitens zu verstehen, welche Emotionen für diese Art und Weise der Eskalation oder deeskalation wichtig sind. – Dagmar Ellerbrock
Die Forscher richten ihren Blick nicht nur auf den einzelnen Amokläufer, sondern auf das Gefüge aus Amokläufer, Medien, Politik und Öffentlichkeit.
Wie reagiert eine Gesellschaft auf Amokläufe?
“Die Lindhurst Higschool im Norden Kaliforniens. Niemand konnte ahnen, welche Tragödie sich hier abspielen würde.”
Wie werden die Amokläufer in der Öffentlichkeit dargestellt?
“Er hat sich mit Musik hochgeputscht und sich wie Arnold Schwarzenegger angezogen. Es war alles eine Fantasiewelt.”
Welche Emotionen werden dem Gewaltausbruch zugeschrieben?
Anders als in den eben dargestellten Szenen einer Fernsehdoku wollen die Wissenschaftler in ihrem Forschungsprojekt eine nüchterne Einstellung gegenüber Waffenbesitz und Gewalt einnehmen. Und der Blick in die Vergangenheit soll ihnen dabei helfen: Im Laufe der Zeit können sich Einstellungen gegenüber Waffen wandel, wie das Beispiel Deutschland zeigt. Wandel und auch Entwicklung sind möglich, und die Historikerin Dagmar Ellerbrock will herausfinden, wer oder was die Entwicklung in Gang gebracht haben könnte:
Man kann natürlich besser verstehen, welche Kräfte, welche Konstellationen in vergangenen Gesellschaften genau diese Transformation vorangetrieben haben, begünstigt haben, und das ist eine wichtige Perspektive, die politische Debatten um Gewalterziehung um Bildung im Sinne einer friedenspolitischen Kompetenz unterstützen sollte. – Dagmar Ellerbrock