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Forschungsquartett | Islamisches Recht: Mehr als Kopftuchpflicht und Körperstrafen

Über den Wandel des islamischen Rechts

Es scheint uns archaisch und rückschrittlich – wie zeitgemäß ist islamisches Recht? Diese Frage klären Wissenschaftler der Max-Planck-Gesellschaft in einem Forschungsprojekt.

Scharia = Recht ?

Wenn davon die Rede ist, dass in einem Land die ‚Scharia eingeführt‘ wird, werden zwei verschiedene Begriffe in einen Topf geworfen: Recht und Religion.

Die Scharia beinhaltet die Gesamtheit aller Handlungen, die gläubige Muslime ausüben oder unterlassen sollen. Diese Anweisungen finden sich im Koran, in den Traditionen des Propheten Mohammed und in den Schulen, die sich ausgebildet haben (schiitische und sunnitische Schulen). Die Scharia ist offen für verschiedene Auslegungen und Interpretationen.

Recht dagegen bezeichnet ein System von Gesetzen, nach denen Menschen in einem Land handeln sollen. Verstöße gegen dieses Recht sind mit Sanktionen verknüpft.

Wenn also die ‚Scharia eingeführt‘ wird, ist damit eigentlich gemeint, dass bestimmte Auslegungen der Scharia in ein islamisches Rechtssystem umgeformt werden.

Ist islamisches Recht rückständig? Ja, wenn die Leute, die das machen, rückständig sind. Nein, wenn man eine andere Interpretation annimmt, eine zeitgemäße, eine, die den Umständen der jeweiligen Gesellschaft entspricht. Islamisches Recht ist eine sehr dynamische Materie.Nadjma Yassari, Juristin am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht 

Islamisches Recht ist wandelbar

Die Juristin Nadjma Yassari leitet eine Forschungsgruppe zum islamischen Recht. In ihrem Projekt untersucht sie dessen Wandelbarkeit. Islamisches Recht beinhaltet mehr als martialische Körperstrafen. In den Ländern, die islamisches Recht anwenden, hat sich vor allem im Bereich des Familienrechts viel verändert.

detektor.fm-Redakteur Max Heeke stellt das Forschungsprojekt und seine bisherigen Ergebnisse vor.

Nadjma Yassari  - forscht am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht. (Foto: Frank Siemens)

forscht am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht. (Foto: Frank Siemens)
Ich kann mir natürlich überlegen: was sind die Gründe, die einer Frau in Saudi-Arabien, Jordanien, Türkei die Grundlage gibt, eine Scheidung zu beantragen? Und darüber könnte ich jetzt einen Aufsatz schreiben. Aber wenn ich mich mal mit einem jordanischen Anwalt, mit einem iranischen Richter unterhalte, merke ich, dass die Gründe für die Ehescheidung gar nicht so relevant sind, sondern die Art, wie das vorgetragen wird.Nadjma Yassari
Forschungsquartett | Über die Wandelbarkeit des islamischen Rechts 05:51

 Das Skript zum Nachlesen

Wenn von der Scharia die Rede ist, kommt es oft zu begrifllichen Verwirrungen. Da heißt es dann: Das Scharia-Recht soll eingeführt werden, In dem und dem Land gilt jetzt das Scharia-Recht oder das Scharia-Gesetz.

Ist die Scharia also gleichzusetzen mit dem islamischen Recht oder dem Recht in islamischen Ländern?

Auch mir unterläuft diese begriffliche Unschärfe. Doch meine Interviewpartnerin Nadjma Yassari sorgt zu Beginn unseres Gesprächs für Klarheit:

Scharia ist ein Begriff aus der islamischen Religion und beinhaltet mehr als das islamische Recht darstellt. Scharia ist ein Oberbegriff für alle Handlungsweisen, die gläubige Muslime machen oder unterlassen sollen. Das islamische Recht hat zwei Teile. Das eine ist islamisch, das andere Recht. Unter Recht stellen wir uns ein Gebilde vor, indem Verhaltensweisen vorgegeben werden, die Sanktionen enthalten. Und das islamische Recht wäre sozusagen: Anweisungen mit Sanktion aus der Religion des Islams.  

Die primären Quellen der Scharia sind der Koran und die Aussprüche und Traditionen des Propheten Mohammeds. Diese Quellen wurden nach und nach verschieden ausgelegt und interpretiert. So entwickelten sich sunnitische und schiitische Rechtstraditionen. Aus den Quellen und den Rechtstraditionen lässt sich das islamische Recht ableiten.

Der Spielraum für Interpretationen sei groß, sagt Nadjma Yassari:

Man kann aus diesen Quellen des Islams, aus der Scharia kann man verschiedene Regelungen ableiten, wer die ableitet und was da gesagt wird, ist natürlich unterschiedlich, je nachdem wer das gemacht hat und zu welchen Zeiten und unter welchen Umständen. Also islamisches Rechtsgebiet ist ein dynamisches Rechtsgebiet, eine sehr dynamische Materie, mit der sehr viel gemacht werden kann, in bestimmte Richtungen, je nachdem wer die Deutungshoheit inne hat. 

In den meisten islamischen Staaten erlassen Parlamente die Gesetze. Daneben existieren Gremien, wie etwa der iranische Wächterrat, die überprüfen, ob die Gesetze islamkonform sind. Im Beispiel des Irans obliegt die Deutungshoheit des islamischen Rechts also den Gelehrten im Wächterrat.

Nadjma Yassari arbeitet als Juristin am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht. In ihrem aktuellen Forschungsprojekt widmet sie sich mit ihrem Team den Rechtsentwicklungen in islamischen Ländern. Dazu haben die Wissenschaftler die Rechtslage in vielen Ländern, die vom islamischen Recht geprägt sind, untersucht und verglichen. Länder Nordafrikas zählen dazu genau wie südostasiatische Nationen und natürlich die arabischen Länder. Hierzulande wird das islamische Recht häufig auf das Strafrecht verkürzt. Dann ist die Rede von martialischen Strafen für kleine Vergehen, wie etwa Hand abhacken für Diebstahl.

Doch Recht ist mehr als Strafrecht- es umfasst auch und vor allem das Familienrecht. Und hier hat sich viel getan, erklärt die Juristin:

Wenn man jetzt die letzten hundert Jahre an Entwicklungen betrachtet, ist, dass es immer seit der Kodifikation des Rechts einen Trend zur Verbesserung der Stellung von Frauen und Kindern gegeben hat, oder im Allgemeinen zur Verbesserung der Situation der Schwächeren gekommen ist.

Ein konkretes Beispiel ist das Sorgerecht. Hier galt bis vor etwa zehn Jahren in verschiedenen islamischen Ländern: In den ersten Jahren blieb das Kind bei der Mutter, dann kam es zum Vater. Das sollte dem Kindeswohl generell dienlicher sein. Diese bislang automatische Regelung wurde aufgeweicht, hin zu einer Prüfung des Einzelfalls:

Das Beispiel des Sorgerechts zeigt, wie man von der Festsetzung einer bestimmten Regelung die Essenz herausgefiltert hat und zu einer flexibleren Lösung gekommen ist, die für die jeweilige Gesellschaft und für den jeweiligen Fall besser passt, Und solche Beispiele finden sie in vielen Bereichen, im Scheidungsrecht hat man mehr Gründe eingeführt, warum die Frau eine Scheidung haben wollte und das hat dazu geführt, dass sich das Recht verändert hat.

Die gesetzliche Grundlage hat sich in vielen islamischen Staaten zu Gunsten der ‚Schwächeren‘ verbessert. Nun sind aber ‚Recht haben‘ und ‚Recht bekommen‘ nicht immer identisch. Nur weil eine Mutter faktisch das Sorgerecht für ihr Kind erstreiten kann, heißt es noch lange nicht, dass sie dies vor einem Gericht auch wirklich in Anspruch nimmt. Obwohl viele Streitigkeiten im Familienrecht hier und dort gleich sind, sind die sozialen Gegebenheiten in islamischen Ländern in der Regel ganz andere als hier in Deutschland, erklärt Nadjma Yassari:

Bevor ich auf ein iranisches Gericht gehe, überlege ich mir, durch informelle und andere Wege zu meinem Recht zu bekommen, als das ich das Recht dort beanspruche. Das ist ein Erfahrungswert, der auch darauf gründet, das die Regierungen, also die demokratische Entwicklung nicht so lange Zeit hatte, Fuß zu fassen, und dass das erst kommen muss: Die Rechtsstaatlichkeit als ein hohes Gut das mich schützt. 

Die wissenschaftliche Arbeit des Teams um Nadjma Yassari ist vielfältig. Die Forscher studieren Gesetzestexte und Fallbeispiele aus der Praxis in islamischen Ländern. Und sie betreiben Feldforschung: Sie reisen in die jeweiligen Länder und diskutieren dort mit Juristen, Politikern und Rechtsgelehrten. Fundierte Kenntnisse der Länder und Sprachen ermöglichen es den Forschern ein sensibles Gespür für das islamische Recht zu bekommen- und festzustellen, das Recht nicht gleich Recht sein muss:

Ich kann mir natürlich überlegen, was sind die Gründe, die einer Frau in Saudi-Arabien, Jordanien, Türkei die Grundlage gibt, eine Scheidung zu beantragen und darüber könnte ich jetzt einen Aufsatz schreiben. Aber wenn ich mich mal mit einem jordanischen Anwalt, mit einem iranischen Richter unterhalte, merke ich, dass die Gründe für die Ehescheidung gar nicht so relevant sind, sondern die Art, wie das vorgetragen wird, oder wie man dann letztlich das umsetzt, und wie die Gesellschaft auf verschiedene Gründe reagiert oder nicht und welche Gründe man einführen könnte, das es besser geht. 

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