Seit zwei Jahren steht eine Hebamme und Ärztin vor dem Dortmunder Landgericht. Sie muss sich dafür verantworten, dass bei einer natürlichen Geburt ein Kind tot zur Welt kam. Die Staatsanwaltschaft verklagt die Geburtshelferin auf Totschlag. Sie unterstellt ihr, den Tod des Kindes aus ideologischen Gründen in Kauf genommen zu haben – und fordert 8 Jahre und 3 Monate Haft sowie lebenslanges Berufsverbot.
Die Hebamme und Ärztin hat mehr als 30 Jahre Berufserfahrungen. Ihre Doppelqualifikation macht sie zu einer der bestausgebildeten Geburtshelferinnen Deutschlands. Sie hat als Ausbilderin gearbeitet, Vorträge gehalten und Fachartikel geschrieben. Sie ist als Gutachterin bei Gerichtsverhandlungen aufgetreten. Sie war Präsidentin des Bundes Freiberuflicher Hebammen Deutschlands. Und sie hat über 2.000 Geburten begleitet.
Ihre Verteidiger plädieren auf Freispruch. Für heute nun war der letzte Verhandlungstag im Prozess angesetzt. Das Urteil wird für den 1. September erwartet.
Ein Kommentar von Anke Bastrop.
Der Kommentar zum Mitlesen
Alles begann im Juni 2008. Die angeklagte Hebamme und Ärztin begleitete eine außerklinische Beckenendlagengeburt. Das Kind kam leblos zur Welt und ließ sich trotz allem Bemühen nicht reanimieren. Die Todesursache ist ungeklärt. Vielleicht ist es notwendig zu sagen, daß eine Beckenendlage eine geburtsmögliche Längslage ist. Daß es in Deutschland die Tendenz gibt, sie per Kaiserschnitt zu entbinden. Daß dies eine Folge verschwindenden geburtshilflichen Wissens und geburtshilflicher Erfahrung ist. Daß die angeklagte Ärztin und Hebamme die Befugnis und Erfahrung hat, eine Beckenendlage zu begleiten und für ihre Expertise deutschlandweit bekannt ist. Es ist eine Nische, in der sie arbeitet. Zuweilen auch eine Nische der Nische. Nur 2 Prozent aller Frauen gebären außerklinisch. Und nur 3 bis 5 Prozent aller Ungeboren befinden sich in Beckenendlage. Es liegt an der Frau zu entscheiden, wo und mit wessen fachlicher Begleitung sie ihr Kind gebären will.
Die Anklage ist eine Idee – aber was ist eine Idee gegen eine Geburt?
Die Anklage – man könnte sie auch Idee nennen – fokussiert sich auf die Geburt. Während die Geburtshelferin vor Gericht ausgesagt hat, daß sie seit sechs Jahren permanent die Frage nach der Todesursache quält. – Ein ungleich weiteres Feld. Vielleicht hat das Nischenhafte dieser Geburt den Projektionsraum eröffnet, in dem die Anklage entstehen konnte. Es war ein Notarzt, der die Polizei gerufen und damit den Prozeß ausgelöst hat.
Aber was ist eine Idee gegen eine Geburt? Die Staatsanwaltschaft unterstellt der Geburtshelferin, den Tod des Kindes als naturgegeben in Kauf genommen zu haben. Was verbirgt sich hinter diesem Verdacht? Welche Idee überspannt welche? Vor 30 Jahren konstatierte die Welt-gesundheitsorganisation: Geburt ist keine Krankheit. Wie wirkt dieser Satz auf Sie? Harmlos? Provokativ? Handelt es sich bei diesem Prozeß um die Verlängerung einer verschwindenden Geburtskultur hinein in ein juristisches System? Sagt dieser Prozeß etwas über die Entwicklung der Geburt von einem heiligen zu einem programmierten Ereignis aus? Wer kann die physiologisch ausgerichtete Geburtshilfe begutachten, wenn eine ihrer bestausgebildeten Fachfrauen und Ausbilderinnen selbst angeklagt ist?
Geburtshilfe braucht Erfahrung, keine Ideen – und keine Machtfragen
Der Kreis der Geburtshelferinnen ist klein im Vergleich zu den Verflechtungen von Kliniken, Pharmafirmen, Versicherern und Juristen. Ungeachtet dessen, daß Letztere kaum mit einer Geburt in Berührung kommen. Gynäkologen werden im Notfall zu einer Geburt hinzugezogen. In Folge ihrer auf den Notfall ausgerichteten Arbeit nehmen sie eine Geburt als potenziell pathologisches Ereignis war. Es entspricht ihrer Ausbildung und ihrem Tätigkeitsfeld. Dennoch begutachten sie vor Gericht physiologische Geburten. Dabei gibt es körpersprachliche Zeichen, die von Gynäkologen und Geburtshelferinnen unterschiedlich gelesen werden.
Es braucht vor allem Erfahrungen, um zum Beispiel erkennen zu können, ob eine Geburt zum Stillstand kommt oder eine Frau in der Latenzphase ist. Je nach Lesart kann ein Kaiserschnitt durchgeführt oder abgewartet werden. Jede Geburt ist ein eigensinniges facettenreiches Zusammenspiel von Mutter und Kind und findet nicht losgelöst von diesem Zusammenspiel statt. Nur wer viele Geburten begleitet hat, erkennt, wann eine Geburt pathologisch und ein Eingriff notwendig wird. Es geht nicht um Ideen. Es geht um Geburten. Insbesondere um eine stille Geburt. Rilke sagt: „Alles ist austragen und dann gebären.“ So gesehen können uns Geburten etwas über Leben und Tod sagen. So gesehen ist auch der Prozeß eine Geburt. Und man darf fragen: Wird die stille Geburt als komplexes Ereignis in den Mittelpunkt gestellt oder einer einzigen Idee unterworfen? Ist dieser Prozeß eine Machtfrage? Ich werde das Gefühl nicht los.
Weil Leben nicht strategisch ist
Wir vergessen, woher wir kommen. Aus Begriffen und Ideen jedenfalls kommen wir nicht. Die Starre jeder Idee widerspricht unserem Lebendigsein. Gerade dann, wenn wir uns aus Angst vor dem freien Fall ins vermeintliche Geländerdickicht der Ideen flüchten. Ideen sind fruchtbar, wenn sie dem Erleben, dem einzelnen Menschen, der Eigensinnigkeit einer Geburt entspringen. Wenn man diese Ideen nebeneinanderstellt, hat man einen Ideenfächer, der beweglich bleibt. Der noch eine Verneigung vor dem Menschen zuläßt.
Das Zubetonieren, Einzementieren, Festfrieren aber entzieht sich dem Lebendigen und unterwirft es. Geburtshelferinnen sind geschult darin, zwischen dem Einen und dem Anderen zu unterscheiden und Übergänge herzustellen. Sie arbeiten tagtäglich an der Quelle. Ich habe das Gefühl, daß wir das Wissen erfahrener Geburtshelferinnen mehr denn je brauchen. Wenn sie uns etwas über Geburten sagen können, können sie uns auch etwas über das Leben in zugespitzten Zeiten sagen. Ihr auf die Elemente des Lebens und Ressourcen ausgerichteter Blick trägt im Idealfall viel zur Familiengesundheit bei und hilft einer Frau über die Herausforderungen des Mutterseins hinweg. So gesehen ist jede Geburt ein politisches und gesellschaftliches Ereignis. Weil sie vielstimmig, beziehungsreich und komplex ist. Weil sie das volle psychische, genetische, physische, sexuelle, hormonelle, soziale und kulturelle Spektrum zweier Menschen entfaltet. Weil sie Ihnen und mir ähnelt. Weil sie aus dem Leben, der Schöpfung, der – Herrgott, ja ! Natur – kommt. Daher kommen wir alle.
Ich mißtraue…
Ich mißtraue der Idee, den Menschen als Kunden, Versicherten, Absatzmarkt oder Gefahrengut zu sehen. Ich mißtraue der Idee, den Menschen als Meßwert, Datenmenge oder Gerät zu sehen. Ich mißtraue der Idee, den Menschen als Anhängsel einer Gruppe, Ideologienträger oder Konstrukt zu sehen. Ich mißtraue der Idee von der Frau als Container, Inkubator oder Diagramm. Ich mißtraue der Idee von der Frau als Opfer, Objekt oder Kolonie. Ich mißtraue der Idee des absichtsvollen, strategischen, abstrakten Menschen. Und ich glaube an den unberechenbaren, eigensinnigen, querschießenden, selbstbestimmten und eigenverantwortlichen, kurzum: den überbordenden Menschen. Ich frage mich aber, ob wir diesem Menschen noch gewachsen sind. Vor allem in Zeiten, in denen sich das Leben verdichtet.
Der Text „Die Grenzen der Macht“ ist eine Produktion innerhalb der „Freistunde“ auf detektor.fm. Text: Anke Bastrop. Produktion und Redaktion: Sofia Flesch Baldin.