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Album der Woche: Ben Folds & Nick Hornby – Lonely Avenue

Mit „High Fidelity“ hat der britische Autor Nick Hornby eines der schönsten Bücher über Musik geschrieben, die es gibt. Der amerikanische Ausnahmemusiker Ben Folds wiederum hat einige der schönsten Popsongs geschrieben, die es gibt. Jetzt haben die beiden zusammen ein Album aufgenommen. Wer zynisch aufgelegt ist, wird hier schnell eine besonders clevere Geschäftsstrategie wittern – immerhin bedient „Lonely Avenue“ neben treuen Ben Folds-Fans nun auch noch die gesammelte Leserschaft von Nick Hornby. Das Album verdient statt Skepsis allerdings tatsächlich volle – und wohlwollende – Aufmerksamkeit.

Lonely Avenue ist allein schon deswegen etwas Besonderes, weil es heute, anders als in früheren Jahrzehnten der Popgeschichte, eher skeptisch beäugt wird, wenn Musiker – zumindest wenn sie ernst genommen werden wollen – nicht ihre eigenen Texte schreiben. Für Ben Folds hatte gerade das seinen Reiz:

Mir hat es gefallen, diesmal einfach nur der Musiker zu sein. Ich habe mich darauf konzentriert, die Bedeutung der Worte über die Melodie zu verstärken – sozusagen ihre musikalische Sprache zu finden.

Die elf Songs auf Lonely Avenue erinnern ausnahmslos an Kurzgeschichten, was angesichts der Beteiligung von Nick Hornby wohl nicht ganz zufällig ist. Genau das sei seine Herangehenweise bei dem Projekt gewesen, bestätigt Hornby – er wollte Kurz- oder vielmehr Kürzest-Geschichten schreiben, auf deren Basis Folds dann die Musik komponiert hat. Jeder Song hat folglich eine reale oder fiktive Hauptfigur; einen Protagonisten, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird. Da ist zum Beispiel der alternde Musiker, der auch am Ende einer langen Karriere immer noch seinen einen großen Hit Belinda spielen muss, ein Liebeslied, dessen Text schon lange keine Bedeutung mehr für ihn hat. Oder das Scheidungskind Claire, deren Eltern für die Party zu ihrem 9. Geburtstag mühsam versuchen, die Fassade vom heilen Familienglück aufrecht zu erhalten, während sich das Mädchen fragt, ob nicht vielleicht zweimal Geburtstag feiern besser für alle Beteiligten wäre.


Folds und Hornby haben durch gegenseitige Bewunderung zueinander gefunden: Folds sagt, er habe Hornbys Bücher gelesen, als er zum ersten Mal in England auf Tour war; umgekehrt bekennt Hornby, er höre Ben Folds, seit der angefangen hat, Platten zu machen. Die Idee zu Lonely Avenue entstand bei einem gemeinsamen Abendessen, woraufhin ein reger e-mail-Austausch folgte: Hornby schickte Texte, Folds antwortete mit mp3s von seiner musikalischen Interpretation. Bei den meisten Texten, sagt Folds, hatte er sofort eine Melodie im Kopf:

Meistens hab ich mir den Text nur kurz angesehen und habe die Zeilen sofort mitgesungen. Was richtig Zeit gekostet hat, war, aus dieser ersten Idee etwas zu machen, dass man sich auch ein zweites, drittes oder auch zum hundertsten Mal anhören kann. Wir haben versucht, dieses spontane Gefühl zu erhalten, wollten aber auch, dass alles gut klingt. Es ist also irgendwie ein spontanes und gleichzeitig sehr durchdachtes Album.

Bei einigen Texten war Folds von der Vorlage so beeindruckt, dass er Sorge hatte, buchstäblich nicht den richtigen Ton zu treffen. Einer dieser Texte war Picture Window. Hornby erzählt darin die Geschichte einer Mutter, die ihr Kind am Neujahrsabend ins Krankenhaus bringen muss und mit einer denkbar schlechten Prognose ins neue Jahr geht.

Sie kämpft gegen die Hoffnung an, verliert aber. Soll heißen, am Ende fängt sie an, zu hoffen, obwohl sie sich die ganze Zeit sagt: „hope is a bastard, hope is a liar“ – es ist nur eine falsche, sinnlose Hoffnung. Letztlich erlaubt sie sich aber doch ein bisschen Optimismus und vielleicht muss man genau das tun, wenn das Leben weitergehen soll. Und die Musik passt einfach perfekt zu diesem Text.

Gerade weil Ben Folds versucht, jeder der Figuren in den Songs auch durch die Musik einen unverwechselbaren Charakter zu geben, hat das Album keine klare musikalische Linie. Damit ist der besondere Ansatz, den Hornby und Folds mit Lonely Avenue verfolgen, gleichzeitig auch die größte Schwäche des Albums – zumal es auch inhaltlich auf den ersten Blick kein übergreifendes Thema gibt, das die Figuren miteinander verbindet und sich in allen Stücken wiederfindet. Die Songs und ihre Geschichten bleiben Fragmente – und das ist durchaus so gewollt, sagt Hornby.

Es ist eben eine Sammlung von Kurzgeschichten. Einige Themen tauchen aber doch immer wieder auf; einige Figuren finden sich in schwierigen Situationen wieder oder durchleben eine Krise. Aber zumindest gibt es keinen Text, der völlig ohne Hoffnung ist.

Lonely Avenue ist jedenfalls niemals sentimental – zum Teil sind die Songs schonungslos, fast schon schmerzhaft realistisch. Dafür tragen sie aber immer einen Kern an universeller Wahrheit, der so wunderbar in Worte gefasst ist, dass man nur zustimmen kann: ja, genau so ist das mit dem Leben. Es läuft nicht immer so, wie man es sich wünscht. Wenn Hornby in From Above also schreibt, „Sure, we all have soulmates“ – wir haben alle einen Seelenverwandten – dann stellt er im nächsten Moment klar, dass wir mit größter Sicherheit an ihm oder ihr vorbeilaufen werden.

Lonely Avenue ist ein Album, das den kleinen Alltagsweisheiten und den großen Wahrheiten gleichberechtigt Raum gibt – jeweils für drei oder vier Minuten, eine Songlänge eben. Elf Stücke, elf Leben, in die man sich hineinziehen lassen kann. Was bleibt, wenn man wieder daraus auftaucht, ist ein hoffnungsvolles Gefühl – und die tröstliche Erkenntnis, dass das Leben zwar nicht perfekt ist, aber irgendwie doch auch gut so, wie es ist. Und vielleicht hört der oder die unbekannte Seelenverwandte ja gerade in diesem Augenblick genau dieses eine Lied und man denkt gemeinsam: „Großartiger Song…“

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