Im scheinbar entmenschlichten Elektronik-Baukasten von „22, A Million“ sind enthalten: Massen an Beats aus der Konserve. Komplett entfremdete menschliche Stimmen. Vielleicht noch die verhackstückten Brösel einer Akustik-Gitarre, eines Banjos oder eines Saxofons. Mechanische Songtitel: „715 – CRΣΣKS“, „00000 Million“, „___45___“.
Und doch sind es am Ende des Albums zwei sehr menschliche Gefühle, die bleiben: Dankbarkeit und Glück.
Ein Plädoyer
Was hat Justin Vernon also aus seinem Projekt Bon Iver gemacht? Das Debüt „For Emma, Forever Ago“ hat er noch als Eremit in einer Hütte im Nichts aufgenommen. Das ist vorbei. Der waldschratige Songwriter mit der Trademark-Falsettstimme hat sich vom Indie-Folk-Darling zum Avant-Pop-Teufelskerl aufgeschwungen. Mit „22, A Million“ schenkt er uns etwas, das im Pop eher selten vorkommt: eine musikalische Weiterentwicklung, die nicht angestrengt wirkt – und nicht anstrengt – sondern einlädt, den Weg mitzugehen.
Drei Plädoyers dafür, Bon Iver dabei zu begleiten.
Erstens
Justin Vernons Kopfstimme war das große Trademark der Bon-Iver-Songs. Und das tritt er einfach in die Tonne. Das, was man gemeinhin als „Gesang“ bezeichnet, erreicht zwar noch häufig die hohen Lagen. Aber meistens ist es nicht Vernon, der da singt. Nicht wirklich. Nicht allein.
Vernon hat neue Spielgefährten: viele bunte Klangfarben, die sich zu seiner Stimme mischen. Pitching und Autotune, Elektronik en masse. Es ist eine Art Demokratisierung, eine Gleichberechtigung. Viele haben das schon versucht, aber Bon Iver schütteln das scheinbar easy aus dem Ärmel: Die Technik ist nicht mehr „Effekt“, sondern reicht der menschlichen Stimme die Hand. Wir wollen Freunde sein.
Zweitens
Good Bye, Retromania. Die Indie-Szene ist vollgestopft mit Anklängen an die 70er, 80er, 90er. Die Musik muss dabei nicht mal irgendwelche coolen Ages like the 80ies zitieren – auch immer aufs Neue die eigenen Stärken zu feiern, ist irgendwie ein bisschen retro.
Die alten Folkhasen Bon Iver hingegen ziehen ihrer Vergangenheit auf „22, A Million“ den Stecker. Das Album ist ein suchendes. Bon Iver finden hier nicht die Pop-Formel der Zukunft. Aber sie stürzen sich rein in das, was da so kommen könnte. Autotune-Männerchöre in einem – Achtung – A-capella-Stück. Auto-Tune-Männerchöre über Industrial Beats. Saxofon-Chöre im Duett mit Stille und nacktem Gesang ohne Autotune. Die Winde wehen, elektronisch, in Richtung Fortschritt.
Drittens
Vielleicht haben Pop-Zeigeist zum Frühstück und Abendessen in Form von Kollaborationen mit Kanye West und James Blake Justin Vernons Idee von Sound geprägt. Vielleicht war der ganze Rummel um sein Eremitendasein und das Genie mit der Gitarre einfach zu viel, als dass er noch weiter klassischen Indie-Folk hätte machen können. Vielleicht ist „22, A Million“ einfach nur eine Reaktion auf all das. Vielleicht ist alles sogar aus Versehen passiert? Wie auch immer: Ein ewig gleichtönender Indie-Folk, ja die ganze Popmusik kann „22, A Million“ außerordentlich gut brauchen. Als eine mögliche Option, sich in die Zukunft zu wühlen. Mögen viele weitere folgen.
Redaktion: Jakob Bauer