Wo macht man als Band weiter, wenn der Spiegel die vorherige Veröffentlichung zu einer der wichtigsten deutschsprachigen Platten des Jahrzehnts gekürt hat? Die Nerven wagen auf ihrem dritten Album „Out“ die Flucht nach vorn und entwickeln ihren Sound konsequent weiter.
Wie schon der Vorgänger „Fun“, ist „Out“ mit Produzent Ralv Milberg irgendwo im Nirgendwo um Stuttgart entstanden. Dabei war die Band diesmal besser vorbereitet als je zuvor, sagt Bassist Julian Knoth:
Wir basteln da immer noch ein Bisschen rum, aber so fertig wie auf „Out“ waren wir noch nie, bevor wir ein Album aufgenommen haben. Da hatten wir schon sehr viel vorbereitet und auch live ausprobiert. Es war uns auch wichtig, da sicherer zu sein, also die Songs auch live ausprobiert zu haben und dann während der Aufnahmen noch die Möglichkeit zu haben, viel mehr rauszuholen, weil man sich sicher fühlt.
Den Groove entdeckt
Diese Sicherheit merkt man dem Album an. Auf „Out“ sind die Nerven eine Band, die sich gefunden hat und genau weiß, wie sie klingen möchte. Milbergs Produktion ist raumgreifend und streckenweise unerträglich direkt und intim, die Songs bedrohlich, atmosphärisch, stinkwütend – und hin und wieder erstaunlich tanzbar.
Knoth und Schlagzeuger Kevin Kuhn haben im letzten Jahr viel Dance-Punk gehört und nennen Bands wie Chk Chk Chk und LCD Soundsystem als Einflüsse. Auch ihre musikalischen Fähigkeiten sind gewachsen – darum lassen sie auf „Out“ mehr Groove zu als bisher.
Ich glaube, wir haben über die Jahre einfach auch gelernt, ’nen guten Groove zu spielen. Das konnten wir vor zwei Jahren auch noch nicht. Und deswegen machen wir’s jetzt, weil wir auch auf jeden Fall ne tanzbare Platte machen wollten. Das war von Anfang an auch eines der wenigen Credos, die wir hatten. Das wird ne Discoplatte.
Ein Gefühl von Hilflosigkeit
Mit diesen Grooves und ihren bisher zugänglichsten Songs entfernen sich Die Nerven weiter von Schubladen, in die sie sowieso ungern gesteckt werden möchten. „Deutschpunk“ und „Noiserock“ ist das schon lange nicht mehr – wenn es das überhaupt je gewesen sein sollte. Für Julian Knoth ist „Out“ auch der Versuch, diesen Fremdzuschreibungen zu trotzen.
Ich habe ein Problem, wenn man einfach sagt, wir sind ’ne Noiserockband oder wir sind ’ne Punkband, weil wir alle so viel unterschiedliche Musik hören und da ganz viel reinstecken. Auf Out stecken einfach viel mehr musikalische Einflüsse und Vorlieben drin als davor und wir wollten auch deutlicher werden, dass wir einen offenen Musikgeschmack haben und eben nicht nur Punk.
Was Die Nerven noch deutlicher vom Deutschpunk alter Schule trennt, sind die Texte. Julian Knoth und Gitarrist Max Rieger teilen sich wieder das Mikrofon – und werfen lieber Fragen auf, statt einfache Lösungen herauszuschreien. Sie erzählen Geschichten vom Verfolgungswahn, von fehlgeschlagener Kommunikation und Entfremdung im großstädtischen Alltag. Dabei setzen die beiden keine Zeile zuviel, erklären nichts und am Ende bleibt nur ein vages Gefühl von Hilflosigkeit.
Nicht jeder der zehn Songs hat das Zeug zum Klassiker und manch einer mag die unmittelbare Wucht der besten Stücke von „Fun“ vermissen, aber ein derartig atmosphärisches, forderndes Stück deutschsprachige Rockmusik erscheint viel zu selten. „Fun“ war vielleicht wichtig, aber „Out“ ist schlicht und ergreifend das bisher beste Album der Nerven.
Redaktion: Vincent Raßfeld