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Album der Woche: Tocotronic – Wie wir leben wollen

Das Musikjahr 2013 beginnt mit einem Schwergewicht: Tocotronic feiern 20. Geburtstag und veröffentlichen ihr neues Album „Wie wir leben wollen“ – kein gefühlsduseliger Lebensratgeber, sondern ein bezauberndes Meisterwerk.

Album der Woche: Tocotronic – Wie wir leben wollen 06:45

Natürlich muss dieses Album so anfangen. Das erste Stück auf Wie wir leben wollen ist kein Lied für, sondern gegen das gute Leben. Alter, Tod, Leiche im Keller, damit geht es los. Hallo Ironie, hallo Tocotronic. Willkommen zurück!

Im zwanzigsten Jahr ihres Bestehens nennen Tocotronic ihr neues Album Wie wir leben wollen. Klingt nach Altersweisheiten und Lebensratgeber, ist aber alles andere als das. Deswegen musste auch das Alterslied am Anfang stehen, sagt Sänger Dirk von Lowtzow.

Der Gag war unvermeidlich, wenn man ein Album macht und es ist das erstes Album, bei dem wir alle über 40 sind. Für viele Leute, die Rockmusik hören und vielleicht 15, 16 sind, ist es natürlich ein biblisches Alter. Als wir angefangen haben Musik zu machen, hätten wir nie gedacht, dass wir überhaupt so alt werden.

Abgesehen von der altbekannten Ironie und Anti-Haltung ist Wie wir leben wollen in vielerlei Hinsicht etwas Neues für Tocotronic. Vor zwei Jahren hatte die Band mit Schall und Wahn ihre sogenannte Berlin-Trilogie abgeschlossen: Drei Alben, die digital produziert waren, rockig und im weitesten Sinne gesellschaftskritische, systemische Themen behandelten. Wie wir leben wollen ist vor allem wegen seiner Entstehung nun etwas anderes.

Aufgenommen wurde die Platte analog mit einer Telefunken-T9-Vierspur-Tonbandmaschine aus dem Jahr 1958. Ohne zu sehr in technische Details zu gehen, kann man sagen, dass heute kaum noch jemand solche Maschinen benutzt. Es gibt auch nur noch fünf Stück auf der Welt. Eine davon steht in einem Studio in dem ehemaligen Flughafen Berlin Tempelhof. Dort haben Tocotronic wieder mit ihrem langjährigen Produzenten Moses Schneider aufgenommen. Das verlief, wegen dieser Maschine, diesmal ganz anders als bisher, erzählt von Lowtzow.

Aufnahme und Mix fallen bei diesem Verfahren zusammen. Das heißt, man muss sehr viele Entscheidungen vorher treffen. Wir hatten einen sehr großen Luxus bei dieser Aufnahme, wir hatten sehr viel Zeit. Wir hatten das Jahr 2011 zum Sabbatjahr erkoren und hatten so sehr viel Zeit, die stücke akribisch auszutüffteln. Ohne Witz und daher haben wir zu viert sehr viel Zeit in unserem Proberaum verbracht.

So alt diese Maschine ist, sie produziert einen total zeitgemäßen oder fast schon futuristischen Klang. Solche Paradoxien gefallen uns sehr gut. Das ist ein bisschen so wie bei dem Film von Stanley Kubrick „Barry Lindon“, wo er mit der modernsten Nasa Linsentechnik eine Beleuchtung herstellt, die nur auf Kerzenschein basiert und damit die Welt des Unwiderbringlichen wieder aufleben lässt. Bei uns ist es so, dass das Gerät so wahnsinnig modern ist.

Klanglich zeigt sich dieses Alt-trifft-Neu vor allem in Hall und Echo, die über der ganzen Platte liegen: Verwaschene Gitarren flimmern durch die Songs und Lotzows Stimme fliegt säuselig durch den Raum – das klingt schon ein bisschen nach Zurück in die Zukunft.

Aber wie wollen sie denn nun leben, diese vier Herren mit den intellektuellen Texten? Das ist gar nicht so leicht zu beantworten, denn Wie wir leben wollen ist kein Ratgeber für ein erfülltes Leben. Es beinhaltet keine Patentrezepte oder konkrete Forderungen. Vielmehr gibt es Stichworte, über die es nachzudenken lohnt. Es geht aus vom Körper als Hülle für ein gutes Leben und kommt so schnell zu Themen wie Identität und Sexualität. Das Stück Neutrum zum Beispiel stellt persönlichkeitsdefinierende Kategorien wie männlich, weiblich, schwul oder hetero in Frage.

Ich sag jetzt mal etwas, dass altmodisch klingt, ich aber wirklich so meine. Ich finde schon, dass man als Rockmusiker Verantwortung hat. Vielleicht drückt sich das dadurch aus, dass man sagt, das Kunst dann relevant oder politisch wird, wenn man durch sie lernen kann, wie man leben will.

Mit dem Thema „das gute Leben“ gehen Tocotronic weg von der großen Polit-Keule, die sie mit ihren letzten, zum Teil sehr gesellschaftskritischen Alben, geschwungen haben. Stücke wie Aber hier leben, Nein danke oder Kapitulation findet man auf dem neuen Album nicht. Dadurch ist es eine sehr persönliche Platte geworden, die Fragen aufwirft, die sich jeder im Laufe des Lebens stellt.

Ein bisschen Altersweisheit ist da also doch drin und ist ja auch gar nicht verwerflich nach 20 Jahren Bandgeschichte. In diesem Sinne: Happy Birthday, Tocotronic. Auf die nächsten 20 Jahre!

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