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Album der Woche: Twin Shadow – Forget

Hype, Gentrifizierung, Abgesang – die Entwicklung mancher Stadtteile lässt sich mit dieser Abfolge mittlerweile ganz gut kategorisieren. Auch beim Hype um die Subkultur in Brooklyn scheint sich dieser Turnus anzudeuten. Zuletzt beklagte sich etwa Musiker Dave Sitek über steigende Mieten. Wer jetzt den Abgesang um den New Yorker Stadtteil schon auf den Lippen hat, bekommt prompt den Gegenbeweis geliefert: George Lewis Jr. legt mit seinem Soloprojekt Twin Shadow ein Debüt vor, das einmal mehr das kreative Potential Brooklyns unter Beweis stellt.

Hört man im Radio die Behauptung: “Wir spielen nur das Beste der 70er, 80er und die Sahnehäubchen von heute!” darf man zu Recht misstrauisch werden. Wenn diese Beschreibung aber auf eine Band zutrifft, sollte man lieber genauer hinhören. Twin Shadow ist so eine Band, oder besser gesagt der Schatten einer Person – nämlich der von George Lewis Jr. Wenn der Wahl-Brooklyner von seinen musikalischen Einflüssen berichtet, rast man mit ihm durch die gesamte Geschichte der Popmusik. Da finden sich 60s Pop, 70s Funk und Disco, 80s New Wave und sogar ein wenig 90s R’n’B wieder. Dennoch versteht Lewis seine Musik nicht als Flickenteppich.

Man kann es nicht aufhalten, die Zeit läuft weiter und wir haben mittlerweile 50 Jahrzehnte Pop und Rockmusik, aus der wir auswählen können. Man kann die Geschichte nicht abstreifen und je mehr es davon gibt, umso mehr Musik findet man gut. Aber ich sehe meine Musik nicht als „ein bisschen von dem und ein bisschen von dem“. Ich sehe sie als Einheit.

Diese Einheit bündelt Lewis nun auf Forget – seinem Debütalbum. Euphorisch beginnt die geballte Ladung Popgeschichte aber nicht gerade. Der sparsam arrangierte Opener Tyrant Destroyed lässt den Hörer fast erstarren. Erst mit großen Synthie-Flächen und einem geisterhaften Hall wird man im Laufe des Songs wiederbelebt.

Ich hab den Song während der Weihnachtszeit geschrieben, als ich ziemlich bedrückt war. Ich habe Weihnachten alleine in New York verbracht. Es war so still in meiner Wohnung – keine Mitbewohner, keine Anrufe. Ich war sehr einsam und so einen Song zu machen, war hart. Er wird gegen Ende etwas heller, weil ich etwas anderes ausdrücken wollte als bloßen Kummer, so nach dem Motto „der traurige Junge in seinem Apartment“. Da steckt mehr dahinter.

Und so bleibt es auf dem Album auch insgesamt nicht lange düster. In der Folge rangieren treibende Discostücke neben 80er Jahre Pop-Rock. Da wird das Elektro-Schlagzeug angeworfen und dem Synthesizer sein ganzes Soundspektrum abverlangt. Untermalt wird das meist von funkigen Gitarreneinsätzen und ab und zu verirrt sich auch ein Gitarrensolo à la Tom Petty in den Mix. Gemeinsam ist all diesen Songs ihre fast schon poetische Bildsprache. Mal werden dabei die Geister von Ex-Freundinnen beschworen, mal wird erzählt, wie man auf dem Nachhauseweg noch ein paar Löcher in den Mond schießt.

Wenn man gerade was durchmacht, dann tut es gut, sich selbst an einen anderen Ort zu denken. Wenn man Gefühle mit Bildern verbindet, werden sie intensiver, wie im Kino. Ich glaube, wenn man Musik macht, ist es wichtig, die Sinne so anzuregen, dass der Hörer versteht was man fühlt. Wenn ich sage: „Ich fühle mich schlecht.“, dann sagst du: „Ja, klar, aber wie schlecht?“ Wenn ich dir dann sage: „Ich fühle mich als würde ein Alien aus meinem Bauch kriechen.“, dann verstehst du wie ich mich fühle.

Solche Texte produziert Lewis am laufenden Band. Meist entstehen die Songs daraus aber erst beim zweiten Durchgang. Er nimmt sich Sätze heraus, die ihm besonders gefallen und kommentiert sie mit Gefühlen und Erinnerungen, die ihn beim Lesen überkommen. So entstehen bildreiche Songs wie At My Heels oder Shooting Holes. Die Musik erfüllt dabei eine besondere Funktion.

Die Musik ist dafür da, die Wirkung der Worte zu verstärken. Musik ist die direkteste Form einen anderen Menschen emotional anzusprechen. Sie ist die Beschreibung der Worte. Wenn du ein Musikstück hörst, dann kann ein Saxophon nerven, weil man eine bestimmte Verbindung dazu hat. Aber trotzdem klingt es damit wärmer, emotionaler, irgendwie menschlicher. Es spricht mehr das Herz als den Kopf an.

Die oft melancholischen Songtexte auf Forget werden häufig durch New-Wave-Einflüsse verstärkt. Auch wenn Lewis dafür keine Idole zitiert, hat ihm sein Sound durchaus prominente Vergleiche eingebracht:

Ich bin der “Schwarze Morrissey”! Ehrlich, ich finde das lustig, das ist ok. Die Leute sehen eine Verbindung wegen unserer Stimmen. Ich mag The Smiths und ich mag Morrissey, aber es war nie meine Lieblingsband. Ich war nie wirklich besessen von irgendeiner Band. Aber ich liebe die Morrissey-Platte “Bona Drag”. Das ist ein wichtiges Album für mich gewesen.

Die Palette der musikalischen Einflüsse ist groß, zu groß um nur einer Band den Vorrang zu geben. Und so besticht Forget vor allem durch seine vielen kleinen Überraschungen. In jedem Song warten verblüffende Kombinationen von Instrumenten und Soundeffekten auf den Hörer. Die Stücke lassen sich nicht auf ein Genre ein, und doch funktionieren sie als homogene Einheit. So entsteht ein eigener Sound, der weit über musikalisches Recycling hinaus geht. Der Kreativität von George Lewis Jr. sei dank.

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