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Keine Angst vor Hits

Süß und klebrig

Caroline Polachek serviert opulenten Zucker-Pop, Kelela lädt unaufdringlich zum Tanzen ein und Kae Tempest bleibt am liebsten im Bett. Außerdem: Musiker*innen rufen zum Spenden für die Erdbebenopfer in der Türkei und Syrien auf. Das und mehr in unserem Musik-Update Keine Angst vor Hits.

Neue Alben

Caroline Polachek – Desire, I Want to Turn Into You

Fast 20 Jahre ist Caroline Polachek schon im Pop-Geschäft und hat sich dabei immer sehr gekonnt an der Schnittstelle zwischen Avantgarde-Sound und Mainstream-Pop bewegt. Sie hat etwa mit der Indie-Band Chairlift Erfolge gefeiert, mit dem Hyperpop-Label PC Music kollaboriert und Songs für Beyoncé produziert. Understatement ist dabei nicht so sehr ihr Ding, dafür aber das Spiel mit den großen oder besser gesagt übergroßen Pop-Gesten. Das merkt man auch im neuen Album „Desire, I Want To Turn Into You“, das unter anderem mit Gastauftritten von Dido und Grimes aufwartet. Die Platte ist ein üppig-eklektischer Pop-Blumenstrauß, dessen 12 Tracks wie süßer Sirup in den Ohren kleben. Hätte es etwas weniger Pop-Kitsch sein dürfen? Vielleicht schon, aber das wäre wahrscheinlich auch langweilig gewesen.

Anna B Savage – in|FLUX

Viel ist nicht bekannt über die Biografie der Londoner Musikerin Anna B Savage. 2015 hat sie ihre titellose Debüt-EP veröffentlicht und ist dann etwa mit Father John Misty oder Jenny Hval auf Tour gegangen. 2021 erschien ihr erstes Album „A Common Turn“, bei dem sie sich einen sehr eigenen, interessanten Stil irgendwo zwischen Folk-Pop und experimentellen Elektro-Sounds erarbeitet hat. An diesen Stil knüpft sie auch mit ihrem zweiten Album „In|FLUX“ an. Die Widersprüche, die Komplexität und die Inkonsistenz des menschlichen Daseins sind dabei zentrale Themen, die Savage auf dem Album behandelt. Das hört sich recht komplex und vielschichtig an und genau so klingt „in|FLUX“ auch. Folk-Gitarren treffen auf synthetische Soundkulissen und Elektro-Beats. Die Songs scheinen außerdem immer dann eine unerwartete Wendung zu nehmen, wenn man gerade glaubt sie verstanden zu haben.

Kelela – Raven

Ganz unaufdringlich lädt die US-Amerikanische Musikerin Kelela auf ihrem neuen Album „Raven“ zum Tanzen ein. Die Platte ist der Nachfolger ihres 2017 erschienen, und von Kritiker*innen hochgelobten, Debüt-Albums „Take Me Apart“. „Raven“ ist dabei laut Kelela aus dem Gefühl der Isolation und Fremdheit entstanden, das sie als Schwarze Frau innerhalb der elektronischen Tanzmusik erlebt und kreiert aus dieser Perspektive heraus ein kraftvolles empowerndes Hör-Kunstwerk. Am Entstehen der Platte hat eine ganze Reihe an renommierten Produzent*innen mitgewirkt und das merkt man „Raven“ in jedem Song an. Kelela kombiniert hier sehr gekonnt R&B mit verschiedenen elektronischen Musikstilen des Dance-Undergrounds, wie UK Jungle oder Drum & Bass. Aber auch von Ambient scheint das Album inspiriert zu sein. Die Tracks wirken mal fragil und verletzlich, mal selbstbewusst und nach vorne schauend. Auf jeden Fall kann man sich darin verlieren, wie im warmen Dunst einer Nebelmaschine auf dem dunklen Dancefloor eines verschwitzten Clubs.

Neu auf der Playlist

Feist – In Lightning

Die kanadische Musikerin Leslie Feist ist zurück! Bei wem es jetzt nicht klingelt: Erinnert ihr euch an den größten Indie-Hit von 2007 “1,2,3,4”? War damals auch Soundtrack für eine Apple iPod Werbung. 2017 wurde ihr letztes Album “Pleasure” veröffentlicht. Jetzt können wir uns auf “Multitides” freuen, das am 14. April 2023 via Interscope erscheinen soll. Drei Singles wurden neu veröffentlicht, von denen vor allem “In Lightning” mit epischem Sound heraussticht. Im Song nutzt Feist das helle Aufleuchten durch einen Blitz als metaphorisches Bild. Auf dem neuen Album gehe es um das, was die Jahre der Pandemie sichtbar gemacht haben, z.B. eigene Verhaltensmuster, mit denen man ohne Ablenkung und Ausweichmöglichkeiten konfrontiert war. Zwar ist ein Blitzschlag gewaltig und gefährlich, aber in ihm steckt auch jede Menge Energie. Übertragen heißt das also: Was in der Pandemie gelernt wurde, kann man auch nachhaltig für sein Leben mitnehmen. Zu diesem großen Bild passt die ebenfalls überwältigende musikalische Umsetzung  mit Trommelwirbel und Sirenen-haftem Gesang. Ein Gewitter kann man sich so tatsächlich beim Hören des Songs vorstellen.

Lana Del Rey – A&W

In ihrem neuen Song “A&W” porträtiert Lana Del Rey eine Frau, die exemplarisch stehen kann, für alle, die Missbrauch, Victim Blaming oder Slutshaming erfahren. Der Titel des Songs verpasst dieser Figur sogar einen Namen:  “American Whore”. Während Lana Del Rey Diskurse rund um Rapeculture in der US Amerikanischen Gesellschaft anreißt, spielt sie musikalisch und visuell wie gewohnt mit einer Old Hollywood Glamour Ästhetik – einer Zeit weit vor #metoo. In der zweiten Hälfte des Songs bezieht sie sich sogar ganz konkret auf den Song “Shimmy Shimmy Ko Ko Bop” von Little Anthony & The Imperials aus dem Jahr 1959, während plötzlich ein harter, tanzbarer Beat einsetzt. An vielen Stellen im Song macht Lana Del Rey so deutlich, dass die Themen im Song trotz Retro-Ästhetik hoch aktuell sind. Auch Verweise auf ihr eigenes Leben, z.B. das schwierige Verhältnis zu ihrer Mutter, das sie schon mehrfach in ihrer Musik besungen hat, werden im Song verhandelt. Es ist die zweite Singleauskopplung aus ihrem am 24. März erscheinenden neuen Album “Did you know that there’s a tunnel under Ocean Blvd”. Ein siebenminütiges feministisches Statement mit Gänsehaut-Faktor.

Kae Tempest – Nice Idea

Kae Tempest aus London hat eine ziemlich gute Idee. Das zumindest behauptet der neue Song Titel „Nice Idea”. Aber man muss Tempest zustimmen. Im Refrain wird dieser Einfall nämlich näher ausgeführt: „I wanna stay in bed with you all day“ – übersetzt also „ich will den ganzen Tag mit dir im Bett bleiben“. Paradoxerweise wird dieses gemütliche Unterfangen, das Tempest mit gewohntem Sprechgesang imaginiert, mit einem ziemlich hektischen Drum’n’Bass Rythmus unterlegt. Passt aber trotzdem, denn Hand auf Herz: Wie freudig und aufgeregt werdet ihr, wenn ihr an so einen ganzen Tag im Bett denkt? Gleichzeitig steht die Hektik der schnellen Beats auch für das, wovor sich Tempest im Song ins Bett flüchten will: Die Unruhe der Großstadt, der Endspurt des Spätkapitalismus. ”If this is it here, the brink, The end of it all, then come let’s sink, Into it’s arms, red sky, pink sunset shrinks the whole horizon” singt sie zum Songausklang. Die Single ist ein Vorbote auf eine neue EP mit gleichem Titel, die dieses Jahr am 22. April zum Record Store Day erscheinen soll. Wem die EP nicht reicht, der oder die kann sich am 27. April außerdem auf den neuen Gedichtband „Divisible by Itself and One“ von Kae Tempest freuen (ihr sechster!). 

Popschnipsel

Vor fast zwei Wochen, am sechsten Februar, hat es in der Grenzregion zwischen der Türkei und Syrien eine der verheerendsten Erdbebenkatastrophen in der Geschichte der Region gegeben. Mehr als 40.000 Menschen haben dabei ihr Leben verloren, unzählige sind ohne Wohnung, harren bei Kälte und Regen in provisorischen Zeltlagern aus und sind auf Hilfe angewiesen. Bands wie Altin Gün oder Kamatürji haben ihre Alben-Releases wegen der Katastrophe verschoben und zum Spenden für die Erdbebenopfer aufgerufen. Altin Gün haben etwa angekündigt, alle Streaming Einnahmen ihrer neuen Single „Güzelliğin On Para Etmez“ via Youtube an das internationale Rote Kreuz zu spenden. Hört euch den Song also fleißig über Youtube an (siehe unten). Über weitere Möglichkeiten, den Betroffenen zu helfen, informieren wir in einer aktuellen Ausgabe unseres Podcasts „Zurück zum Thema“.

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