Es ist nicht nur geografisch ein ziemlicher Sprung von Orkney nach Skelmersdale. Statt wildromantischer Landschaft, Weite und Abgeschiedenheit stand für Hannah Peel, Erland Cooper und Simon Tong von The Magnetic North diesmal ein urbanes Kontrastprogramm an. Mit ihrem neuen Album „Prospect of Skelmersdale“ führt die Band durch eine Retortenstadt voller Roundabouts und Unterführungen, in der nur die Straßennamen noch an eine ländliche Vergangenheit erinnern.
Skelmersdale gehört zu den speziell konzipierten „new towns“: Planstädte, die in den 60ern entstanden sind, um der Wohnungsknappheit in großen Industriestädten wie Liverpool entgegenzusteuern. Von der hoffnungsvollen Zukunftsvision der Architekten sieht man heute auf den ersten Blick allerdings nicht mehr viel. Tatsächlich brauchten The Magnetic North mehrere Anläufe, um mit Skelmersdale warm zu werden.
Man muss ein bisschen tiefer graben, um dort die Magie zu entdecken, aber sie ist da. Wir haben nur eine Weile gebraucht, sie zu finden.
Fragmente einer Stadtgeschichte
Simon Tong von The Magnetic North ist in Skelmersdale aufgewachsen – aber sogar er kann verstehen, dass man nicht unbedingt Liebe auf den ersten Blick für die Stadt empfindet. Geholfen haben der Band vor allem die Begegnungen mit den Menschen hier. Bei einem ihrer ersten Besuche trafen die drei Musiker eine ältere Dame, die ihnen nicht nur sofort Tee angeboten hat, sondern auch eine DVD mit Imagefilmen aus der Gründerzeit von Skelmersdale hervorkramte. Ausschnitte davon finden sich in Samples auf dem Album wieder.
In den zwölf Songs auf “Prospect of Skelmersdale” mischen The Magnetic North solche Fragmente der Stadtgeschichte mit frischen Eindrücken, die Hannah und Erland von ihren eigenen Erkundungstouren mitgebracht haben. Und obwohl sich Simon auch im Gespräch sehr zurückhält mit Kommentaren über seine Heimatstadt – er sei „zu nah dran“, sagt er – würde es das Album ohne seine Verbindung zu Skelmersdale nicht geben, sagt Sänger Erland Cooper.
Erst mit dieser Kindheits-Verbindung macht diese Platte Sinn – darauf baut alles auf. Ohne diese Erinnerungen bedeutet das alles nicht so viel – es wäre nicht genug gewesen.
„Man muss sich Grenzen setzen in der Musik“
Der Fokus auf Skelmersdale habe vor allem dabei geholfen, überhaupt wieder als The Magnetic North ins Studio zu gehen, meint Erland, denn die drei sind daneben immer noch in anderen Projekten beschäftigt. Die letzte Platte, auf der sie alle gemeinsam gespielt haben, war 2014 das Erland and the Carnival-Album „Closing Time“. Mit Skelmersdale war nicht nur die naheliegende Idee für die nächste Co-Produktion gefunden, sondern auch gleichzeitig ein überschaubarer inhaltlicher Rahmen abgesteckt.
Es hilft, wenn man sich Grenzen setzt – im Grund sind sie vielleicht sogar das Wichtigste in der Musik – eigentlich bei jeder Art von Kunst. Es ist mittlerweile sehr einfach, soviele Instrumente einzusetzen wie man will oder über jedes Thema zu schreiben, das man sich vorstellen kann. Sich trotzdem auf wenige Worte oder eine begrenzte Zahl von Instrumenten zu konzentrieren, ist so viel besser.
Es war deutlich schwieriger, einen Sound für „Prospect of Skelmersdale“ zu finden als beim Debütalbum über Orkney – auch wenn das grundsätzliche instrumentale Set up immer noch sehr ähnlich ist. Aus Erlands Sicht ist es eine sehr reduzierte Platte geworden, obwohl man als Außenstehender ziemlich genau hinhören muss, um das zu merken. Es gibt auch hier einen Chor, aber es sind eben nur die drei Stimmen von Erland, Hannah und Simon, mit ein bisschen Studiotrickserei mehrfach übereinander gelegt. Wichtig war für The Magnetic North vor allem, eine klangliche Richtung zu finden, die die Idee hinter den „new towns“ einfängt – eine Art musikalischen Filter.
Wir wollten diese Hoffnung ausdrücken, die ursprünglich in dieser Planstadt gesteckt hat und das fühlte sich für uns an wie ein Farbfilter aus den 60er oder 70er Jahren – dieser ganz spezielle Look aus Fernsehsendungen und Filmen von damals. Und alle Soundtracks aus dieser Zeit enthalten neben Streichinstrumenten viele Flöten, Klarinetten und andere Holzblasinstrumente. Also haben wir unseren Kern-Sound von Schlagzeug, Gitarre und Synthesizern dadurch ergänzt.
Liebe auf den dritten Blick
Im Rückblick klingt „Prospect of Skelmersdale“ sogar für Erland und seine Bandkollegen hoffnungsvoller, als sich die drei das bei ihrem ersten Besuch vorgestellt hatten. „Jedes Mal, wenn wir da waren, hat es sich ein bisschen freundlicher und optimistischer angefühlt“, sagen Hannah und Erland. Ob das an der Stadt lag oder an der künstlerischen Auseinandersetzung damit – wer weiß.
Wir haben unsere eigene kleine Utopie auf dieser Platte gebaut, mit all diesen Orts- und Straßennamen. Die Stadtplaner damals haben eine ideale physische Welt erschaffen und wir jetzt eine utopischen Kunstwelt.
Ein kleines Stück Utopie haben The Magnetic North also mitgenommen aus Skelmersdale. Und, fast unfreiwillig, eine Liebeserklärung geschrieben an diesen Ort, der erst auf den zweiten oder dritten Blick ein Stückchen Zauber entwickelt.