Das Schulsystem in Deutschland arbeitet am Anschlag. So formuliert es der aktuelle nationale Bildungsbericht. Überall herrscht Lehrermangel, Unterrichtsstunden fallen aus, und darunter leidet natürlich auch die Qualität des Unterrichts. Dabei haben Kinder ein Recht auf Bildung. Die ist in Deutschland aber nach wie vor Ländersache. In Hamburg verfolgt man schon seit fast 20 Jahren ein etwas anderes Schulkonzept. Was machen die sogenannten selbstverantworteten Schulen anders und vielleicht sogar besser? Darum geht es hier heute in „Zurück zum Thema“. Ich bin Jessi Hughes. Hi! Wer an einer Schule arbeitet, der ist mit besonderen Anforderungen konfrontiert. Denn in der Schule fallen Bildungsauftrag, Digitalisierung, Bürokratie und soziale Herausforderungen zusammen. Das ist nicht nur eine Challenge für Lehrerinnen und Lehrer. Natürlich hat auch die Schulleitung jede Menge damit zu tun, die Bedürfnisse von Schülerinnen und Schülern, von Eltern und von Lehrkräften im Blick zu haben und zwischen unterschiedlichen Interessen zu vermitteln. In Hamburg hat die Schulleitung dabei besonders viel Freiheiten. Die Schulen bekommen vom Land mehr Verantwortung übertragen, als es an anderen Orten in Deutschland üblich ist. Das heißt konkret: Hier gibt es mehr Gestaltungsspielräume. Bianca Thies arbeitet in Hamburg-Barnbeck als Schulleiterin an der Stadtteilschule Helmut Hübener. Im brand eins Podcast erklärt sie meinem Kollegen Christian Bollert, wie sie zwischen all den gesetzlichen Vorgaben, Bedürfnissen und Interessen den Schulalltag managt. Du organisierst eine Schule mit 1300 Schülerinnen und Schülern. Ist das ein Spannungsverhältnis zwischen Vorschriften und Menschen, wie man sich das vielleicht so von außen vorstellt? Naja, also wenn man alles in Vorschriften machen könnte, dann bräuchten wir eigentlich gar keine Führung. Dann kann das von einem Programm ausgeführt werden. Führung braucht man eigentlich ja auch deswegen, weil nicht alles sich in Regeln abbilden lässt. Insofern ja, da ist manchmal ein Spannungsfeld. Aber das Schulgesetz hat an bestimmten Stellen Punkte, die man kreativ interpretieren kann. Sowohl wir als Menschen als auch das Gesetz möchte ja ermöglichen, dass alle gut gebildet werden. Und dann kommt man meistens irgendwie zusammen. Es hat natürlich einen Grund, dass ich auf diese Regeln so ein bisschen abhebe, weil es gibt eine Umfrage des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie, und darin klagen 86 Prozent, also ein sehr großer Teil von über 2400 Schulleitungen, über genau diese Regeln, über bürokratische Hürden. Und die würden laut der Aussage dieser Untersuchung oder Befragung die Schulentwicklung ausbremsen. Da würdest du aber so pauschal nicht zustimmen, oder? Nun, wir sind hier in Hamburg, was das angeht, ein bisschen im Tal der Seligen, weil sich Hamburg schon vor vielen Jahren für selbstverantwortete Schulen entschieden hat. Das heißt, es gibt durchaus Bundesländer, in denen man sehr viel mehr Regeln hat. Da habe ich selbst nie eine Schule geleitet, aber wir haben hier schon viele Möglichkeiten als Schulleitungen zu entscheiden, was vor Ort im jeweiligen Stadtteil das Richtige ist für die Menschen, die dort zusammenkommen. Und das ist ungewöhnlich deutschlandweit. Da versucht man vieles auf Bundeslandebene für alle gleich zu regeln. Wo gibt es denn in Hamburg praktische Hürden? Ganz konkret für dich, woran scheiterst du auch immer mal? Also in Hamburg ist die größte praktische Hürde, finde ich, dass die Arbeitslast teilweise an der Menge an Sachen, die man entwickeln soll, einen manchmal wirklich vor Quadraturen des Kreises stellt. Das heißt, Selbstverantwortung ist schön, aber wenn zu viele sich teilweise widersprechende Sachen da sind, die erledigt werden müssen, dann ist es schwierig, sozusagen. Und da zerreibt man sich. Also zum Beispiel, keine Ahnung, alle Schüler sollen Klassenfahrten machen, aber ein 24/7-Dienst ist zum Beispiel mit jungen Kolleginnen, die kleine Kinder zu Hause haben, vielleicht auch alleinerziehend sind, gar nicht so simpel möglich. Das sind so Sachen, wo Schulgesetz und Vorschriften nicht immer mit dem richtigen Leben mitkommen. Das ist so ein Klassiker an Kleinigkeiten. Was macht man denn da? Naja, wir überlegen jetzt gerade, können wir die Art Klassenfahrten, aber da würden wir sozusagen, da reden wir als Kollegium im Moment drüber und versuchen, eine Lösung zu finden, ein anderes Klassenfahrtskonzept zu entwickeln, was immer noch den Behördenvorgaben entspricht, aber dann darauf mehr Rücksicht nimmt. Also es gibt halt Sachen, die sind nicht beschrieben, was genau eine Klassenfahrt ist. Und man muss eigentlich immer gucken, was nicht beschrieben ist und gucken, ob das vielleicht genau der Schlüssel ist, mit dem man eine bessere Lösung findet. Wie kann ich mir das konkreter vorstellen? Also kannst du darüber reden oder möchtest du darüber reden? Also es gibt Klassen- und Projektfahrten im Schulgesetz und Projektfahrten, indem man sozusagen den Schülern, die das können und wollen, sozusagen Reisen ermöglicht, aber nicht unbedingt eine ganze Klasse sofort schickt, sondern für alle eine Horizonterweiterung vorsieht. Aber egal, ob man die jetzt vor Ort hat, indem man zum Beispiel ein Theaterprojekt macht, was den Horizont erweitert, oder ob man wirklich sich in irgendeinen Zug setzt und irgendwo hinfährt, um den Horizont zu erweitern. Das sind vielleicht Möglichkeiten. Also an der Stelle ist das Gesetz wirklich eher ziemlich eng. Also wir organisieren vieles in Klasse in der Schule. Das ist zum Beispiel eine der… Und die Klasse ist aber nicht für jeden Menschen der richtige Aufenthaltsort. Und gerade für sehr individuelle Entwicklungsprozesse muss man manchmal andere Möglichkeiten suchen. Also wir haben zum Beispiel an der Schule einen Projektzug, die eben auch mit jahrgangsübergreifendem Lernen arbeiten. Das heißt, dass da Schüler, wie auch an anderen, also zum Beispiel Stadtteilschule Winterhude, mehrere Jahrgänge in einer Klasse sind, sozusagen. Und das ist durchaus erlaubt und bietet aber Möglichkeiten, auf unterschiedliche Entwicklungen nochmal anders Rücksicht zu nehmen. Und das gilt auch für Klassenfahrten. Also oft sind Klassenfahrten der kleinste gemeinsame Nenner. In der Oberstufe ist es dann oft so, dass alle nach Barcelona fahren, weil so die Mitte zwischen schönem Wetter und Museum ist, also Bildungsreise. Und sobald man das quasi, also sobald man nicht festschreibt, dass dieselbe Gruppe, die schon die ganze Zeit in der Woche zusammensitzt, irgendwo gemeinsam hinfährt, entstehen auf einmal andere Sachen. Also das weiß ich, ein Kollege, der sehr gerne Volleyball spielt, der dann sozusagen ein Beachvolleyballcamp anbietet, oder ein Kollege, der Wakeboarden liebt, sozusagen Wakeboardcamp. Da würde man nie im Leben eine Klasse, die doch eher aus zufälligen Bekannten, die die Bürokratie so zusammengeschmissen hat, sozusagen besteht, dazu bringen, dass sich alle darauf einigen, Wakeboarden zu gehen. Muss auch nicht jeder. Und da so zu überlegen, an welcher Stelle sind Gemeinsamkeiten sinnvoll, weil wir als Schule ja auch die Aufgabe haben, dass wir bis zu einem gewissen Grad vermitteln, dass man in einer Gruppe klarkommt, auch wenn nicht alles, was die Gruppe gerade macht, dem eigenen Plan so ganz genau entspricht. Aber wir sind ja nun mal in einer Gesellschaft, wo wir auch fordern und fördern, dass Schule auch Individuen ausbildet, die wissen, was sie wollen und das auch mit Verantwortung so umsetzen können. Und dann müssen wir auch in der Schule in anderen Formen denken. Verstehe ich das richtig, dass das dann im weiteren Gedankengang auch bedeutet, dass es dann ein bisschen einfacher oder flexibler wird, die Aufsicht zu koordinieren? Naja, es ist einfach so. Also kein Beruf würde einen 24/7-Dienst machen und das nicht in Freizeit ausgleichen. Das ist aber im Lehramt zum Beispiel ganz normal. Man geht davon aus, dass ein Klassenlehrer mit einer Gruppe von Menschen, von der manchmal nicht mal die Eltern 28 auf einem Haufen haben wollen würden, wenn ihr eigenes Kind mal 28 da wäre, mit allen Stimmungen, dass dann zwei Erwachsene mit so einer Gruppe auf Reise gehen. So, das 24/7 machen, dann ein Wochenende haben und montags wieder zum Dienst antreten, ohne dass das ausgeglichen wird. Das gibt es meines Wissens in keinem Job. Und insofern ist es so, dass bei den ganzen Belastungen, die sowieso da sind, also es kommen immer mehr Aufgaben dazu, dann einfach, also mir hat in der Behörde noch niemand beantworten können, also es gehört zu den Aufgaben eines Lehrers dazu, dass man auf Klassenfahrt fährt. Aber es gibt gar keine Zwangshebel. Also ich kann auch einen Kollegen, der einen guten Grund hat, nicht mitschicken. Und gute Gründe gibt es inzwischen viele. Also entweder weil ich es körperlich nicht schaffe, einen 24/7-Dienst zu machen, also 24/5-Dienst an der Klassenfahrt sind in der Regel fünf Tage, oder weil ich kleine Kinder zu Hause habe, die ich nicht betreuen kann, sozusagen. Das ist einfach aus der Zeit gefallen. Und das haben wir manchmal. Und das bringt einen dann auch im Alltag an den Rand. Und viele Sachen, die wir ermöglichen an Schule, die sind nicht verboten, aber sie sind entweder nicht richtig definiert oder sie sind definiert für Ausnahmefälle. Und da ein gutes Maß zu finden, wie man die Ausnahme zu regeln, macht das ist vielleicht ein Verfahren. Die Schulleiterin Bianca Thies im Gespräch über Gestaltungsfreiräume, die sie an ihrer Schule in Hamburg auslotet. Dieser Ausschnitt stammt aus dem brand eins Podcast, in dem es diesen Monat einen Themenschwerpunkt gibt. Es geht um Führung. Dafür hat sich detektor.fm Moderator Christian Bollert an sehr unterschiedlichen Orten in Deutschland mit Führungspersonal verabredet. Nicht nur an der Schule, sondern zum Beispiel auch am Theater oder bei der Bundeswehr. Hört doch mal rein in den Podcast. Ich verlinke ihn euch in den Shownotes. Das war’s von mir für heute. Ich bedanke mich bei Tim Schmutzler, der diese Folge produziert hat, und natürlich auch bei euch. Danke fürs Zuhören. Wir hören uns nächste Woche wieder. Bis zum nächsten Mal.