Es gibt ja Menschen, bei denen ist der Weg von der Uni in die Forschung ziemlich geradlinig: Studieren, Doktorvater oder Doktormutter suchen, promovieren. Und dann gibt’s Fälle, bei denen ist das alles ein kleines bisschen komplizierter. Und um so einen Fall geht’s hier heute, nämlich um eine junge Mathematikerin, deren Weg in das deutsche Wissenschaftssystem über ein russisches Gefängnis führt. In dieser Folge geht es um die Geschichte von Murat Yakason. Ich bin Jessi Jus, schön, dass ihr dabei seid. Detektor FM, zurück zum Thema: Anaxagoras, Evarist Galois, Tibor Rado, André Weil. Die Liste der Mathematikerinnen und Mathematiker, die im Gefängnis auf gute Ideen gekommen sind, ist tatsächlich ziemlich lang. Vielleicht nicht ganz verwunderlich, denn im Gefängnis hat man ja bekanntlich ein bisschen Zeit. In der Haft haben diese Menschen sich tatsächlich mit mathematischen Problemen beschäftigt. Etwas anders ist die Geschichte von Murat Yakason, einer jungen Mathematikerin, die mit 20 Jahren in St. Petersburg drei Tage ins Gefängnis muss. Es werden drei Tage, die ihr Leben verändern und auch ihre Karriere in der Mathematik prägen. Obwohl sich Murat am Ende in der Haft keine Minute inhaltlich mit Mathematik beschäftigt, hat der Mathematiker Demian Nawel Gos Murat Yakason getroffen und meiner Kollegin Caro Breitschädel ihre Geschichte erzählt. Heute forscht Murat ja in Paris an der Universität Sorbonne. Aber diese Geschichte beginnt in St. Petersburg im Herbst 2014. Eigentlich beginnt sie sogar ein Stückchen früher, genauer gesagt am 7. Juli 2014. Das war nicht ein glücklicher Tag meines Lebens. Aber manche Geschichten müssen von einem Drama beginnen. Murat ist ja gerade 20 Jahre alt, also wirklich noch sehr, sehr jung. Sie lebt damals noch in Russland, in St. Petersburg, und studiert Mathematik. Und sie hat gerade ihren Führerschein gemacht. Okay, vielleicht für den Kontext: In den Wintern in Russland fährt man hart. Also macht man das nicht automatisch in den eisigen, schneidigen, hartnäckigen Straßen. Und ich hatte sehr, sehr Angst vor allem, sogar mehr als vor der Mathematik. Homöopathie. Murat sagt selbst: Mathe und Homöopathie, das ist etwas, was ihr damals noch große Angst bereitet hat. Aber Autofahren – Autofahren ist halt noch deutlich schlimmer, erst recht im Winter in Russland. Und trotzdem hat sie irgendwie ihren Führerschein geschafft, aber noch nicht so viel Autofahren geübt, als sie zum Bahnhof fährt, um einen Freund abzuholen. Ich war enttäuscht, dass ich meinem Freund zeigen musste, dass ich nicht weiß, was ich tue. Es ist traurig. Und die Geschichte fängt dann damit an, dass Murat in St. Petersburg ein Auto schrammt. Oh je, ausgerechnet Murat kriegt das erstmal gar nicht richtig mit, was da eigentlich passiert ist. Aber es gibt Überwachungskameras, die alles aufnehmen. Oder wie Murat selbst sagt: „Hey, ich habe ja nicht mitten in Moskau einen Oppositionsführer erschossen, ich habe ja nur ein Auto geschrammt. Ist ja klar, dass die Kameras hier super funktionieren.“ Auf dem Videomaterial ist also zu sehen, wie Murat das andere Auto touchiert. Die Polizei kann Murat identifizieren auf dem Material und meldet sich dann bei ihr. Ja, blöd gelaufen, aber ein Kratzer im Auto – dafür muss man ja vermutlich auch in Russland normalerweise nicht sofort ins Gefängnis. Das nicht, aber Murat muss eben vor Gericht. Schließlich hat sie ja auch Fahrerflucht begangen. Und der Richter stellt sie vor die Wahl: Entweder du gibst deinen Führerschein ab für ein halbes Jahr, oder du gehst drei Tage ins Gefängnis. Okay, wenn man jetzt nicht unbedingt diesen Führerschein braucht, würde ich sagen, ist das nicht so eine schwere Entscheidung. Genau, also ich bin da total bei dir. Ich würde auch sagen, ich gebe einfach meinen Führerschein ab, oder? Ist ja klar. Und ich brauchte für nichts die Fahrzeuglizenz zu diesem Zeitpunkt. Ich habe zwei Eltern mit zwei Autos, die mich wo ich will fahren. Und nichts in meinem Leben brauchte die Fahrzeuglizenz. Aber ich dachte, es wäre ein Fehler, wenn ich die Fahrzeuglizenz abgeben würde. Was übrigens, wenn ich in die Zukunft blicke, habe ich nach dieser Erfahrung nicht benutzt. Und Murat braucht den Führerschein überhaupt nicht dringend, wie sie selbst sagt. Aber sie denkt, dass es ja voll das Versagen wäre, den Führerschein direkt wieder abzugeben, nachdem sie ihn geschafft hat. Ich glaube, Murat weiß heute selbst nicht wirklich so genau, warum. Aber sie steht da vor dem Richter und sagt: „Okay, heute Gefängnis.“ Also als ich gesagt habe: „Ja, lass mich drei Tage im Gefängnis verbringen“, habe ich mir vorgestellt, das sind drei Tage deines normalen Lebens ohne Zerstörung. Also glaube ich ehrlich, dass ich auf Mathematik konzentrieren kann, weil ich keine Zerstörung habe. Aber wirklich, wortwörtlich eine Sekunde nach der Verhandlung wird ihr sofort klar, dass diese Entscheidung wahrscheinlich ein großer Fehler war. Als die Verhandlung vorbei war und vier Polizisten mir die Arme genommen haben und mich involuntär ins Auto genommen haben, obwohl ich es geschafft hatte zu gehen, aber sie haben sich nicht geäußert. Das ist, als ich begann zu realisieren, dass dies nicht nur eine Verletzung der Zerstörung ist, sondern mehr als das. Wie die Polizisten Murat nach dem Prozess dann sehr unsanft zu ihrem Auto geleiten, das ist wahrscheinlich schon so ein Ausblick darauf, wie es im Gefängnis auch zugeht, kann ich mir vorstellen. Also, dass es da gar nicht ruhig und entspannt ist, sondern wahrscheinlich ziemlich furchtbar. Ja, das ist es auch. Murat kriegt erstmal nichts zu essen und nichts zu trinken. Mehr als 24 Stunden, das muss man sich erstmal vorstellen. Sie hat überhaupt keine eigenen Sachen dabei, sie darf nicht raus aus ihrer Zelle, sie kann nicht wirklich mit anderen Menschen sprechen. Also, es gibt da eine Frau, mit der Murat die Zelle teilt, die schwer krank ist und die halt die ganze Zeit schreckliche Horror-Stories erzählt. Und dann gibt es noch die Gefängniswärter. Und das war’s: Gefängniswärter, die sie angraben und nach ihrer Nummer fragen. Also ich finde es echt krass, wie Murat davon auch erzählt. Sie macht ja auch voll viele Jokes. Manon hat es ja auch schon gesagt: Sie bewahrt sich ihren Humor. Aber man hört schon auch durch, dass das wahrscheinlich überhaupt nicht lustig, sondern ziemlich unangenehm war. Ja, also das merkt man schon, wenn sie erzählt, was das für so eine krasse Erfahrung ist in dem Moment, wie schrecklich das alles für sie ist. Murat sitzt da also allein in ihrer Gefängniszelle und findet es viel schlimmer, viel einschränkender als erwartet. Ich denke da gerade an Hausarrest, den man als Kind oder Jugendliche vielleicht mal hatte. Wenn man nicht raus darf und sich nur mit dem beschäftigen kann, was man halt so in der Gefängniszelle macht. Und nach ein paar Stunden wird es dann schon echt langweilig. Aber Murat, die hat halt nichts. Nur sich selbst und ihre eigenen Gedanken. Und obwohl das machbar klingt für ein paar Stunden oder Tage, ist es halt super hart, weil wir so an das Privileg der Freiheit gewöhnt sind, sagt sie. Und in dieser Ausnahmesituation, in der man ja wirklich einfach nur nach Hause will, wahrscheinlich, da frage ich mich: Also, bei aller Liebe zur Mathematik, warum wünscht sie sich in dieser Situation ausgerechnet ein Paper über motivische Homotopie-Theorie? Ja, sehr gute Frage. Warum würde man sich ins Gefängnis ein Paper über motivische Homotopie-Theorie bringen lassen, vor allem, wenn man gar nicht vorhat, das dann auch zu lesen? Das und mehr erfahrt ihr in der kompletten Folge von Geschichten aus der Mathematik, unserem Podcast in Kooperation mit Spektrum der Wissenschaft. Es gibt auch einen zweiten Teil in diesem Podcast, und in dem geht es wirklich dann ganz konkret um die Mathematik, mit der Murat Yakason sich beschäftigt hat. Und das, das kann ich schon mal versprechen, ist ziemlich abgefahren. Da geht es nämlich viel um zehndimensionale Donuts, die unendlich viele Löcher haben und die Frage, wann man diese Donuts angeln kann. Also hört doch gerne mal rein. Die Folge verlinke ich euch nochmal in den Shownotes. Und dann hören wir uns nächste Woche wieder. Diese Folge hat Wiebke Stark produziert. Ich bin Jessi Jus. Macht’s gut. Bis bald.